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"Beziehungsarbeit ist das Wichtigste"

Von Saskia Blatakes

Reflexionen

Der Pädagoge Philipp Leeb darüber, wie man Buben helfen kann, sich von einem verstaubten Männerbild zu befreien.


"Wiener Zeitung": Herr Leeb, was ist Bubenarbeit?

Philipp Leeb: Die Bubenarbeit ist eigentlich aus der Mädchenarbeit entstanden. Mädchenarbeit bedeutet, dass es Freiräume für Mädchen geben muss, wo sie sich selbst behaupten können und nichts erkämpfen müssen. In der Bubenarbeit können Buben über Themen sprechen, die sie interessieren, und Gefühle, die sie bewegen. Und sie können Dinge ausprobieren. Wir haben einen sehr spielerischen Zugang und unser Ziel ist, dass sie mal aus der Rolle fallen können. Das durchschnittliche Männlichkeitsbild heißt: ernst schauen und stark und aggressiv sein. Was verändert sich, wenn ich lache? Die Buben sollen die Möglichkeit bekommen, in Gefühle hinein zu spüren, die eigentlich selbstverständlich sein sollten, die sie aber nicht immer so ausleben können.

Kritiker unterstellen Ihnen, dass Ihre Arbeit zu ideologisch sei und Sie den Buben ein neues, sanfteres Männerbild aufdrängen wollen.

© Luiza Puiu

Natürlich gibt es viel Skepsis. Aber wenn die Leute bei uns zuschauen, sind sie immer sehr erstaunt, was da passiert. Wir zwingen die Jungs ja nicht, mit Puppen zu spielen oder Röcke anzuziehen. Wir bieten ihnen einfach Räume, in denen sie sich ausprobieren können. Es geht darum: Wenn sie es wollen, sollen sie es dürfen. Frauen haben sich Hosen erkämpfen müssen, aber Männer werden nach wie vor diskriminiert und degradiert, wenn sie nicht dem Klischee entsprechen. Auch Homophobie ist immer noch sehr verbreitet.

In den Workshops können sich die Buben auch gegenseitig massieren. Wie wird das aufgenommen?

Ja, das ist eine ganz große Angst. (Lacht.) Ich komme aus der Sonderpädagogik und wir arbeiten mit verschiedenen Materialien, wie etwa Tüchern. Körperlichkeit kann man einfach nicht ausschließen, das ist ja im Sport genauso Thema. Wenn einer sagt: "Wäh, das geht ja nicht, das ist total schwul!", dann antworte ich: "Und was ist beim Fußball los? Die großartigsten Athleten müssen auch massiert werden." Bei Buben werden Berührungen gleich in die Ecke Homoerotik gesteckt, weil sie sich genieren. Was ja auch okay ist. Wir eröffnen ihnen eine neue Möglichkeit – und wenn sie das nicht wollen, dann machen sie es auch nicht. Aber Sinneserfahrungen sind in der Pädagogik ein wesentlicher Bestandteil. Leider rückt es immer mehr in den Hintergrund.

Wie wirken Berührungen gegen Gewalt?

Neulich waren wir in einer Sonderschule und im Workshop ging es um sehr reale Gewalterfahrungen und Probleme. Die Buben waren untereinander sehr aggressiv. Wir haben versucht, eine neue Atmosphäre herzustellen. Die sind jeden Tag zusammen – und in Wahrheit sind sie ja Freunde. Die Rivalitäten sind oft Inszenierungen. Die Buben waren wirklich dankbar und wollten den Workshop sogar wiederholen. Durch Körperlichkeit öffnet man sich leichter. Und damit sind wir direkt in der Gewaltprävention. Burschen sind untereinander sehr körperlich und fügen sich oft richtig arge Verletzungen zu. Dann heißt es immer: das ist nix, das sind nur blaue Flecken. Die Grenze ist dann, wenn einer einen Bauchstich hat. Aber bis dahin muss es ausgehalten werden.

Kennen Sie das aus Ihrer eigenen Jugend?

Ja, ich habe diese Sozialisation mit Gewalt in meinen Körper eingeschrieben. Ich bin so aufgewachsen. Wir haben uns im Park gegenseitig geschlagen und "nichts geschenkt", wie man so schön sagt. Aber mit dem Älterwerden habe ich als Jugendlicher gemerkt, dass ich mich in einer Gewalttradition befinde und dringend raus muss.

"Rechte sehen den Mann als Opfer des Feminismus. Aber letztlich sind wir alle Opfer des Patriarchats. Gewalt erleben Männer vor allem von Männern", sagt Philipp Leeb.
© Luizia Puiu

Wie kam es dazu?

Durch Freunde, die gesagt haben: Es reicht, hören wir auf, uns zu schlagen! Es ist ein reflexiver Prozess gewesen. Ich bin mit zwei großen Brüdern aufgewachsen, da gibt es eine ganz andere Körperlichkeit. Unser Vater ist in ärmlichen Verhältnissen im Krieg aufgewachsen. Gewalt gehörte dazu. Deswegen verstehe ich auch junge Männer, die aus Kriegsgebieten zu uns kommen, die diese Gewalt einfach eingeschrieben haben. Das heißt aber eben nicht, dass sie es nichts Neues lernen können. Und das geht nur durch Beziehungsarbeit. Durch Liebe. Durch Freiheit. Durch Entgegenkommen. Willkommenskultur heißt nicht, dass ich nur Geld und Essen gebe.

Viele haben dafür wenig Verständnis.

Auch die meisten österreichischen Männer haben Gewalterfahrung. Das wird als normal hingestellt, oft hört man: das gehört halt dazu zum Leben. Wenn sie darüber reden, wird es als Schwäche dargestellt. Dabei ist es ein Zeichen von Stärke, wenn man aus so etwas heraustritt und sagt: Da mach ich nicht mehr mit. Aber um Österreich gegenüber fair zu sein: Es hat sich hier schon sehr viel verändert. In Schulen darf nicht mehr geschlagen werden. Wir sind in einer Umbruchsgesellschaft. Als ich vor über zwanzig Jahren mit der Bubenarbeit begonnen habe, bin ich erst pädagogisch herangegangen. Und dann habe ich viel über mich selbst als Mann erfahren. Heute ist die Bubenarbeit ein wichtiger Bestandteil der Pädagogik.

Philipp Leeb im Gespräch mit WZ-Mitarbeiterin Saska Blatakes.
© Luiza Puiu

Was bewegt die Buben in Ihren Kursen?

Das ist sehr unterschiedlich und hat viel mit den Lebenslagen zu tun. Wir arbeiten mit afghanischen Flüchtlingen genauso wie mit Schülern von Gymnasien. Oft geht es um den Körper und Sexualität – und da landen wir immer sehr schnell bei der Pornografie. Manche sind sehr offen und erzählen einfach, was sie so sehen. Andere trauen sich nicht, darüber zu sprechen. Die Möglichkeit wollen wir ihnen geben. Ihnen Fragen stellen: Was konsumierst du da? Was macht das mit dir? Ist das die Realität? Wir wollen herausfinden, was sie beschäftigt. Da gibt es viele Missverständnisse. Viele denken, bei Bubenarbeit ginge es vor allem um Gewalt. Natürlich ist das ein genauso zentrales Thema wie Sexualität. Es geht um eigene, echte Gewalterfahrungen zu Hause oder mit den Freunden, aber auch um diese fiktiven Gewalterfahrungen aus Medien, wie diese Bilder vom harten Leben im Ghetto. Da wird viel stilisiert. Dann gibt es noch die Gewalt, die sie tatsächlich ausüben. Da wird viel angedeutet und angegeben. Aber vieles ist auch real. Und dann gibt es noch die strukturelle Gewalt. Darüber wird meistens gar nicht gesprochen.

Was meinen Sie mit struktureller Gewalt?

Im öffentlichen Raum, in der Schule, der gesamte Umgang mit Jugendlichen in Österreich. Was ist ihnen erlaubt? Wie ist der Blick auf sie? Wie partizipativ ist eine Stadt? In Wien gibt es Jugendzentren und Parks, aber trotzdem gibt es einen großen Bedarf an mehr Räumen. Einerseits muss man Mädchen darin unterstützen, dass sie sich nicht ständig Räume erkämpfen müssen. Andererseits muss man Burschen darin bestärken, dass sie auch Räume an die Mädchen hergeben. Burschenarbeit, so wie wir sie machen, ist Arbeiten an der Geschlechtergerechtigkeit.

Es gibt Männeraktivisten – vor allem aus der rechten Szene –, die das ganz anders sehen.

Ja, die sehen den Mann als Sorgenkind und Opfer des Feminismus. Aber im Endeffekt sind wir alle Opfer vom Patriarchat. Gewalt erleben Männer vor allem von Männern.

Männliche Jugendliche gelten vor allem in den Medien meist als Problemfälle, die es zu zivilisieren und kontrollieren gilt.

Gewalt und auch Sexualität werden in den Medien meistens mit geflüchteten Männern assoziiert. Autochthone Jugendliche scheinen keine Sexualität zu haben und nicht gewalttätig zu sein. (Lacht.) Da wird viel Hetze betrieben und auch sehr selektiv berichtet. Hintergrundinformationen gibt es selten. Ein Beispiel ist die neue Statistik "Gewalt an Schulen". Da muss man bedenken, dass es heute nicht unbedingt mehr Gewalt gibt, sondern mehr Anzeigen. Früher gab es auch Gewalt, aber die Diskussion war eine andere und es wurde einfach nicht darüber geredet. Heute gibt es viel mehr Anzeigen als früher. Dass es Gewalt an Schulen gibt, wissen wir schon lange. Dass auch Erwachsene physische und strukturelle Gewalt ausüben, darüber reden wir zu wenig. Wen wollen wir da gegeneinander ausspielen? Wir müssen uns das ganze System anschauen und überlegen, wen wir unterstützen müssen. Aber der Aufhänger in den Medien lautet: 300 Anzeigen in Wien bei 240.000 Schülerinnen und Schülern.

Was tun mit gewalttätigen Jugendlichen? Die neue Regierung setzt auf Strafverschärfung bei Gewaltdelikten.

Prävention kann sehr viel. Mich ärgert, dass Unterstützungsmaßnahmen kaum wahrgenommen werden. Es gibt in Österreich seit vielen Jahren Männerberatungsstellen, die ständig darum kämpfen müssen, dass sie mehr Geld bekommen. Das kann ich nicht nachvollziehen. Auch Männer haben Depressionen. Wenn ein Mann seine Frau umbringt, ist es zu spät. Prävention ist das Wichtigste. Da wird viel von NGOs und Sozialarbeit geleistet. Präventionsarbeit ist Beziehungsarbeit. Wenn sich Eltern um ihre Kinder kümmern, ist schon viel getan. Aber viele Familien werden aufgerieben, weil es ökonomische Zwänge gibt. Mir fehlt auch, dass mehr über Väter und ihre Rolle geredet wird.

Nach dem "Hofstede Index of Masculinity", einem Ländervergleich von Einstellungen zu Rollenklischees, ist das Männlichkeitsbild in Österreich so konservativ wie sonst nur in Japan oder Ungarn. Woran liegt das?

Es gibt Workshops, in denen ich die Jungs frage, was Mannsein für sie ist. Und die Antwort ist oft: Naja, wir haben halt einen Penis und aus. Ganz sanft dringt es auch in die Politik ein, dass sich was ändern muss. Das Männlichkeitsbild der achtziger Jahre ist nicht mehr so dominant. Trotzdem hält sich das alte Männerbild in Österreich immer noch sehr stark durch die Männerbünde. Ich mein nicht nur die Burschenschaften. Aber egal wo - sei es in Parteien oder Gewerkschaften – überall nur Männer. Frauen kommen da nicht rein, außer durch Seilschaften. Männer fühlen sich dann schnell verdrängt und können sich Frauen nicht unterordnen. Da geht es schlicht und einfach um Angst.

Können Sie diese Angst nachvollziehen?

Ja, sicher. Weil ich ein Jugendlicher war, der männlich sozialisiert wurde. Ich kenne das Gefühl, mich einer Frau untergeordnet zu fühlen – einer Chefin oder der eigenen Mutter - und das war anfangs unangenehm. Aber ich habe einen Prozess durchlaufen dürfen, bei dem ich langsam gemerkt habe, dass es ausbalanciert sein muss. Wenn man offen in Situationen hineingeht und einfach schaut, wo liegen die Kompetenzen, von wem kann ich mir was sagen lassen oder sogar was lernen, dann ist das ein Lernprozess.

Sind Sie Feminist?

Bubenarbeit gründet auf Feminismus. Ohne Feminismus gäbe es keine Bubenarbeit. Frauen stoßen nach wie vor Männer an und motivieren sie, sich zu verändern. Männer machen das anderen Männern gegenüber viel zu wenig. Wir sind da in der Minderheit.

Philipp Leeb wurde 1972 in Wien geboren und arbeitete von 1997 bis 2010 als Lehrer. Seit 2007 ist er externer pädagogischer Berater des Bildungsministeriums zu Gender-Themen. 2008 gründete er den Bubenarbeit-Verein Poika. Der Name kommt aus dem Finnischen und bedeutet Junge oder Sohn. Leeb hat zwei Töchter und beschäftigt sich in seiner Freizeit mit Clownerie und Schauspielerei.

Saskia Blatakes, geboren 1981 in München, arbeitet als freie Journalistin in Wien.