Und die Relevanz des Inhalts? Sie haben einmal auf die Frage, was man gelesen haben muss, um ein Kritiker zu werden, geantwortet: Musil ja, Mann nein. Warum?

Das war eine blöde Antwort auf eine blöde Journalistenfrage. Aber es war auch eine Stellungnahme gegen Reich-Ranicki, der Thomas Mann verehrte und von Robert Musil wenig hielt, weil ihm die reflexiven Passagen des "Mann ohne Eigenschaften" unzugänglich waren.

Sie haben außerdem als notwendige Lektüre für Kritiker genannt: Friederike Mayröcker, Marianne Fritz und Paul Celan. Allesamt keine Protagonisten des klassischen Erzählens.

Das waren für mich die Autoren, bei deren Lektüre ich am meisten zu tun gehabt habe. Aus dieser Lektüre habe ich aber auch am meisten darüber gelernt, was Literatur überhaupt ist. Um Friederike Mayröcker zu verstehen, habe ich zehn Jahre meines Lebens gebraucht. Marianne Fritz hat mich völlig verstört, ich konnte diese Literatur mit nichts in Verbindung bringen, das ich in meiner germanistischen Ausbildung gelernt habe. Interessanterweise führt uns das zum Anfang unseres Gesprächs zurück und zu der Frage, ob man mit literaturwissenschaftlich abgesicherten Mitteln beurteilen kann, ob etwas, wie bei Mayröcker, was auf den ersten Blick aussieht wie ein Haufen von zufälligen Assoziationen, vielleicht doch seine innere Richtigkeit hat. Oder ob das, was bei Marianne Fritz wie Prosa einer delirierenden Halbwahnsinnigen aussieht, nicht doch ein bewusst gemachtes Kunstwerk ist.

Texte, die diese Arbeit erfordern, faszinieren mich. Und sie haben in mir eine große Skepsis gegenüber dem Narrativen entstehen lassen, das ja immer so tut, als ob es die einzige gültige Beschreibung der Wirklichkeit wäre. Und bevor Sie sagen, das sei jetzt elitär: Ich will das nicht wertend oder normativ verstanden wissen. Aber es ist mein Standpunkt.

Aber indem Sie diesen Standpunkt als Leiter eines Literaturhauses, Universitätsprofessor und Kritiker vertreten, bekommt er doch etwas, wenn schon nicht Normatives, dann doch Normierendes.

Ich glaube nicht, dass das Programm des Literaturhauses ausschließlich von meinen persönlichen Vorlieben geleitet wird oder werden soll. Das kann ich schon trennen und außerdem bin ich zwar der Leiter, aber nicht der Einzige, der Programm macht. Was mir auf jeden Fall wichtig ist, dass es für unsere Besucher nachvollziehbar bleibt, warum wir etwas machen und warum wir etwas lassen. Das können unterschiedliche Gründe sein. Persönliche Interessen sollten da allerdings schon auch als Grund gelten dürfen. Denn wissen Sie, welche Art der Literaturvermittlung und der Literaturkritik ich am allerschlimmsten finde?

Nein, aber Sie werden es mir gleich sagen.

Das sind die Kritiker, die sagen: Mich interessiert das Buch zwar nicht, aber ich glaube, dass es genau das Richtige für meine Klientel ist, die nicht so intellektuell ist wie ich. Bei Rezensionen zu Michael Köhlmeier zum Beispiel findet man dieses Besprechungsmuster immer wieder. Oder bei Ingrid Noll. So nach dem Motto: Ich halte zwar nichts von ihren Büchern, aber dir mein - in Klammer: dummer - Leser wird das bestimmt gefallen. Das halte ich für die verlogenste Form der Literaturkritik überhaupt.

Besser wäre es, sich mit solchen Autoren erst gar nicht auseinanderzusetzen?

Nein, aber die Auseinandersetzung sollte nicht auf eine solche Weise erfolgen. Denn natürlich sollten wir uns als Kritiker zum Beispiel mit der Frage beschäftigen, warum Daniel Kehlmann so einen Erfolg hat und so viel verkauft, obwohl er nichts anderes macht, als Wikipedia abzuschreiben und daraus Romane zu basteln.

Das war jetzt aber schon etwas despektierlich.

Naja, man hat ja nachgewiesen, wie sehr sich die Einträge zu Gauß und Humboldt auf Wikipedia und manche Passagen der "Vermessung der Welt" ähneln. Aber das ist ja ein legitimes Mittel. Die Avantgardisten haben auch irgendein bereits existierendes Stück Text genommen und ihn dann zur Literatur erklärt. Wenn Duchamp ein Urinal nehmen konnte, "Duchamp" drauf schreiben und dann war es Kunst, dann darf auch Daniel Kehlmann einen Wikipedia-Artikel nehmen, "Kehlmann" drauf schreiben und sagen, es ist Literatur.

Piotr Dobrowolski, geboren 1965, war u. a. Außenpolitik-Chef bei "Format" und Chefredakteur des Nachrichtenmagazins "Frontal" und ist nun als freier Journalist tätig. Er lebt in Graz.