Als am 27. Mai 2015 eine Heerschar an Polizisten in das schmucke Luxushotel Baur au Lac in Zürich eindrang, ahnte noch niemand, dass dies der Beginn des wohl größten Umsturzes in der Geschichte des Weltfußballverbandes Fifa sein würde. Die von der US-Justiz ausgehenden Ermittlungen gegen ein Dutzend ebenso hochrangige wie mutmaßlich korrupte Funktionäre brachte letztlich das über Jahrzehnte gewachsene System Joseph Blatter und das seines Möchtegern-Nachfolgers, Uefa-Boss Michel Platini, zu Sturz - und den Sportverbands-
Moloch in gefährliche Schieflage.
Eines passierte dann jedoch nicht - obwohl sich viele Fußballfans genau das erwartet hätten beim großen Ausmisten im Fifa-Augiasstall: Nämlich der Entzug der WM 2022 in Katar, die als größter Sündenfall in der Historie des Weltverbandes angesehen wird. Dabei war das, wie wir heute sehr genau wissen, die eigentliche Stoßrichtung der US-Ermittlungen gewesen. Die 22. WM beginnt daher wie geplant am Sonntag im Wüstenemirat - auch deshalb, weil die nach den Razzien in Zürich neuformierte Fifa mit Präsident Gianni Infantino an der Spitze kein Interesse entwickelt hat, entsprechend radikale Schlüsse aus den vielen Indizien über die viel-zitierte "gekaufte WM" zu ziehen. Dabei ist mittlerweile recht gut dokumentiert, was rund um die umstrittene Wahl Katars anno 2010 alles (an Korruption) gelaufen ist.
Entschieden wurde die Vergabe im Fifa-Exekutivkomitee, einem Zirkel aus Funktionären aller Kontinentalverbände - mit Blatter als Vorsitzendem. Der Schweizer Langzeitfunktionär wollte die Endrunde zwar an die USA vergeben, doch letztlich setzte sich der krasse Außenseiter mit 14:8-Stimmen im vierten Wahlgang gegen die Amerikaner durch.
Vor allem vier Personen, die damals Katar ihre Stimme gaben, gerieten wegen Korruptionsvorwürfen immer wieder in den Fokus - Platini sowie das südamerikanische Triumvirat Julio Grondona (Argentinien), Nicolas Leoz (Paraguay) und Ricardo Teixeira (Brasilien). Der damalige Uefa-Boss und Fifa-Vize Platini geht mittlerweile recht offen mit einem ominösen Mittagessen im Pariser Élysée-Palast beim damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy um. Überraschungsgast dort war nämlich der Thronfolger von Katar und jetzige Emir Tamim bin Hamad al Thani - und das neun Tage vor der WM-Vergabe. Platini beteuert freilich noch heute, sich aus freien Stücken für Katar entschieden zu haben (und nicht etwa aufgrund jener Milliarden, die die Scheichs als Gegenleistung in Paris St. Germain zu stecken versprachen).
Letztlich stolperte der Franzose aber über die ganze Katar-Affäre - denn statt seinen Intimus Blatter irgendwann zu beerben, wurde er aufgrund eines ominösen 2-Millionen-Franken-Vertrages mit Blatter wie ebendieser aus allen Fußball-Ämtern gejagt und muss sich heute noch mit diversen (Straf-)Verfahren herumschlagen.
Ein Kronzeuge packt aus
Richtig konkret wurden die Schmiergeldzahlungen indes vor der US-Justiz: Im Zuge der Zürich-Razzia konnte nämlich der argentinische TV-Rechtehändler Alejandro Burzaco als Kronzeuge gewonnen werden, der umgehend zu Katar auspackte. Er belastete vor allem Grondona, Leoz und Teixeira, dass sie für Millionenbeträge ihre Stimme an Katar gegeben hätten. Da nur noch der Ex-Verbandschef aus Brasilien lebt, der von seiner Heimat aber nicht ausgeliefert wird, kam es jedoch zu keinem Prozess. Allerdings machte das Schweizer Fernsehen SRF jüngst eine interessante Entdeckung: Denn die Fifa-Ethikkommission hatte Teixeira deshalb im Juli 2019 wegen Korruption verurteilt - und zwar zu einer Million Franken Bußgeld, also ungefähr gleich viel, wie er für sein Katar-Votum erhalten haben soll. Doch Teixeira ging dagegen mehrfach in Berufung - was sich als Fehler erweisen sollte. Denn als letzte Instanz entschied das Schweizer Bundesgericht - und bestätigte im Februar 2022 das Ethikkommissions-Urteil. Die Katar-Korruption ist damit erstmals amtlich.
Allerdings hat das Ganze einen Schönheitsfehler: Denn wer meint, ohne diese vier Stimmen wäre die USA als Sieger hervorgegangen, unterliegt wohl einem Trugschluss. Denn entscheidend waren im vierten Wahlgang erst jene fünf Stimmen, die zuvor auf Ausrichter Südkorea entfallen waren. Und von diesen gingen drei an Katar, das dem selben Kontinentalverband angehört - und nur zwei an die Amerikaner. Nur bei einem 11:11-Gleichstand am Ende hätte Blatter als Zünglein an der Waage agieren und die Titelkämpfe nach Übersee vergeben können - davon war man aber letztlich weit entfernt.
Dass das ganze Bewerbungsverfahren unsauber war, steht auch längst schwarz auf weiß fest: Der Ex-FBI-Direktor Michael Garcia hatte im Auftrag der Fifa-Ethikkommission schon 2014 einen entsprechenden Report vorgelegt, in dem er weitere Ungereimtheiten aufzeigt, dabei aber auch die Konkurrenz schlecht wegkommt - Japan, Südkorea und die USA haben demnach (auch) Geschenke an Funktionäre verteilt.
USA mit 2026 entschädigt
Letztlich gab es also keine "smoking gun", die dazu geführt hätte, den Katarern die WM wieder zu entziehen. Dem 2016 inthronisierten Infantino, der Katar jüngst als "beste WM aller Zeiten" anpries, wird es nur recht gewesen sein, das Milliardenprojekt nicht spät in Frage stellen zu müssen - zudem residiert er nunmehr luxuriös in Doha. Und nachdem den Amerikanern die WM 2026 (mit Kanada und Mexiko) zugesprochen wurde, sind die US-Schadenersatzdrohungen rasch erlahmt. Wie sagte Blatter doch immer? Probleme in der Fifa löst die Fifa-Familie am besten selbst.
So war das schließlich schon 2006 und 2010: Nach dem gekauften Sommermärchen der Deutschen - gegen Südafrika und mit Katar (!) als Schmiergeld-Drehscheibe - bekam der schwarze Kontinent die Spiele halt vier Jahre später. Am Ende sind in der Fifa-Familie alle glücklich, denn der Ball rollt unendlich weiter. Und zwar wie geschmiert.