WZ Christian Mayr - © Wiener Zeitung

WZ  Christian Mayr

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"Alles messen, was messbar ist. Und versuchen, messbar zu machen, was es noch nicht ist." Es darf bezweifelt werden, dass sich die Fifa wissentlich auf dieses Prinzip von Galileo Galilei berufen hat, als sie die Weiterentwicklung des Videobeweises VAR per (halbautomatischer) Abseitstechnik vorangetrieben hat. Und doch muss man sich fragen, ob das allseits gelobte neue Tool, das angeblich so viele richtige Entscheidungen bringt, nicht die Ent-Menschlichung und Ent-Emotinalisierung des Fußballs, die mit der Aberkennung vermeintlich korrekter Tore längst Platz gegriffen hat, auf die Spitze treibt. Sinnbildlich stehen dafür die animierten, gesichtslosen Marionetten, die jede noch so winzige Abseitsstellung aufzulösen versuchen.

Längst vergessen ist mittlerweile, warum der Videobeweis im Fußball in den 10er-Jahren eingeführt wurde. Nämlich um krasse, spielentscheidende Fehlurteile zu verhindern - wie nicht-erkannte Tore (Frank Lampard bei der WM 2010), übersehene Handspiele vor Treffern (Thierry Henry im WM-Play-off 2009) oder Phantomtore (Stefan Kießling in der Bundesliga 2013). In Katar wird aber nun nicht nur das Prinzip, dass der VAR lediglich bei klaren Fehlentscheidungen eingreifen darf (in den vier definierten Fällen von Tor, Penalty, roten Karten und Spielerverwechslungen) ständig missachtet, sondern mit der millimetergenau abrechnenden Abseitstechnik die ursprüngliche Intention sogar pervertiert.

Ein Beispiel: Portugals Elfer gegen Uruguay hätte nie per Videocall gegeben werden dürfen, da klarer Fall von Stützhand laut Fußball-Regelwerk. Dafür wurden schon etliche Tore aberkannt, weil sich einzelne Körperteile von Stürmern minimalst im Abseits befanden. Bei Mexikos Hirving Lozano (gegen Saudi-Arabien) war es der Hintern, bei Timothy Weah (USA) im Iran-Match das Knie, bei Argentiniens Lautaro Martinez gegen die Saudis die Schulter. Regelrecht eine Farce war dann am Donnerstag der wieder zurückgenommenen Elfer bei Kroatien vs. Belgien, wo nicht einmal mehr in der Animation erkennbar war, wessen Schulter nun voran war.

In allen Fällen war die Abseitsstellung von den Schiri-Assistenten und den herkömmlichen Kameras nicht zu erkennen und daher eigentlich ein klarer Fall von "gleicher Höhe". Die gibt es nun aber nicht mehr - und damit auch nicht mehr das eherne, ungeschriebene Gesetz vom "im Zweifel für den Angreifer". Natürlich zum Nachteil für ebendiese und den Sport an sich, zumal die Fifa ja immer das Toreschießen fördern wollte. Und in keinem der aufgezählten Fälle gab es durch vorstehende Körperteile irgendeinen messbaren Vorteil; die Tore wären - salopp gesagt - auch gefallen, wenn die Nasenspitze drei Zentimeter weiter hinten positioniert gewesen wäre.

Ein Ausweg aus dieser Fehlentwicklung wäre, nicht mehr die relevante Linie an vorderster Front, sondern mittig durch den Körperschwerpunkt zu ziehen - und zwar keinen dünnen Strich, sondern eine etwas breitere Linie. Überschneidet sich diese mit jener des Verteidigers, ist es On- statt Offside. Wer jetzt meint, das geht nicht, dem sei ausgerechnet die Handregel vorgehalten: Wurde vor vier Jahren praktisch jedes (unabsichtliche) Hands sanktioniert, so gilt mittlerweile wieder mehr die menschliche Komponente hinsichtlich Armbewegung oder unnatürliche Verbreiterung. Insgesamt braucht der Sport keine technokratische Perfektion, sondern wieder mehr menschliches Maß. Man muss im Fußball nicht alles messen, was man messen kann.