Es dauerte ein paar Stunden, bis es auch die Argentinier aus den weniger betuchten, dafür aber weit entfernten Vierteln auf die Avenida Callao schaffen. Aus den klapprigen Bussen sind Gesänge zu hören, die Menschen stecken ihre Köpfe aus den Fenstern. "Argentina Campeon", rufen sie. "Cada dia te quiero mas" - "Jeden Tag mag ich Dich mehr", "Argentinien Weltmeister", tönt es, ehe sich auch dieser Bus in die endlos lange Autokarawane einreiht, die versucht, so nahe wie möglich an den Obelisken heranzukommen. Vom Nachmittag bis weit nach Mitternacht dauert dieses Spektakel. Eine gigantische Party. Für alle Argentinier unter 40 Jahren auch die erste Erfahrung eines WM-Gewinns, so lange liegt der letzte Triumph von Diego Maradona und Co. 1986 zurück. Auch deshalb platzt aus ihnen die Freude heraus. Überall besprühen sich die Menschen mit Schaum, es kreisen Sektflaschen. Ein paar Waghalsige erklimmen die Laternen, ein Verrückter klettert sogar auf die Spitze des Obelisken.
Es ist ein Moment, der aber auch optisch zeigt, dass die Freude über den insgesamt dritten WM-Titel das Land vereinen kann. Die Luxuskarossen und die Rostlauben, die Armen und die Reichen - sie alle vermischen sich in einer großen Traube stundenlangen Jubels. Ihr Einheitsoutfit: das weiß-himmelblaue Trikot mit der Nummer 10 und dem Namen Messi hinten drauf. Es lässt zumindest an diesem Tag soziale Grenzen, Hierarchien oder Klassen verschwinden. "Der Pokal nach der Kampagne der Entmutigung", kommentiert das linksgerichtete Blatt "Pagina 12".
Politischen Schlüsselfigur Messi
Das argentinische Volk, sonst so sehr in zwei politische Lager gespalten, versammelt sich in diesen Tagen hinter einem Lagerfeuer: "La Scaloneta" - wie das Team inzwischen nach dem Trainer Lionel Scaloni gerufen wird. Die Journalistin Pola Oloixarac von "La Nacion" beschreibt diesen zusammenschweißenden Effekt der Albiceleste mit einem durchaus passenden Vergleich: "Die Nationalmannschaft ist das, was die britische Krone für England ist. Sie vermittelt ein Zugehörigkeitsgefühl und lässt eine Frusttoleranz zu."
Die Lage im Land ist ansonsten dramatisch: Im Vorjahresvergleich lag die Inflation im abgelaufenen Monat bei rund 88 Prozent, alles und jeder jagt in Argentinien nach dem US-Dollar, denn der Peso in der Tasche verliert praktisch im Wochentakt an Wert. Demonstrationen auch aus dem eigenen Lager machen dem argentinischen Präsidenten Alberto Fernandez das Leben schwer. Er verzichtete auf eine Reise nach Katar, wollte offenbar im Falle einer Niederlage unerfreuliche Bilder vermeiden. Er traf die falsche Entscheidung, wieder einmal.
Seine eigene Vizepräsidentin Cristina Kirchner dominiert ohnehin die Berichterstattung und treibt Fernandez vor sich her. Sie ist und bleibt der emotionale Gradmesser der argentinischen Politik. Gerade erst wurde sie zu sechs Jahren Haft wegen Korruption verurteilt. Kirchner wirft den Medien und der Justiz eine Hexenjagd und mafiöse Methoden vor und sieht sich als Opfer politischer Verfolgung. Die Opposition um Ex-Präsident Mauricio Macri begrüßt das Urteil. Doch das Verfahren hat den Graben noch einmal vertieft, die beiden Lager noch unversöhnlicher auseinanderdriften lassen, wozu auch ein gescheiterter Attentatsversuch auf Kirchner vor Monaten beitrug. Das alles ist seit Sonntagnachmittag vergessen. Vorerst. Wie lange, das wird sich noch zeigen.
Kampf um die Bilder
Hinter den Kulissen hat bereits ein knüppelharter Kampf um die Bilder begonnen. Wer darf sich mit und wann mit der Nationalmannschaft zeigen. Nur der Präsident, oder auch seine Vizepräsidentin - oder auch Horacio Rodríguez Larreta, der konservative Bürgermeister von Buenos Aires? Jeder will in der Nähe von Lionel Messi sein, ein historisches Foto mit Argentiniens "Messias", wie ihn ein TV-Reporter nannte, kann auf die eigene Popularität abfärben. Wer sich zu sehr anbiedert, kann aber auch Schaden nehmen. So wird auch Lionel Messi eine politische Schlüsselfigur der nächsten Monate.
Für Fernandez ist dieser Sieg eine große, unverhoffte Chance. Die Stimmung in seinem Land dürfte sich trotz der allgemeinen Umstände erst einmal verbessern. Zuletzt gelang es auch, die Inflationsraten zu stabilisieren, der Ausblick auf das kommende Jahr ist nicht mehr ganz so schlecht wie noch vor ein paar Monaten. Und in der Regel färbt so ein epischer Triumph dann auch auf das Wahlverhalten ab. Der WM-Triumph hat Fernandez eine unverhoffte Chance geschenkt, auf der Welle des Erfolgs noch einmal das Ruder herumzureißen. Ende nächsten Jahres stehen in Argentinien Präsidentschaftswahlen an. Noch ist nicht klar, ob Fernandez noch einmal antritt oder der Superminister Sergio Massa (Wirtschaft) für das Regierungslager ins Rennen geht. Die mächtigste Frau im Land, Cristina Kirchner, die immer auf etwa 25 bis 30 Prozent feste Wahlklientel bauen kann, was meist für den Einzug in eine Stichwahl reicht, hat angekündigt, nicht mehr für ein politisches Amt kandidieren zu wollen. Doch in Argentinien ändert sich in zwei Wochen alles, aber in 30 Jahren nichts, wie ein geflügeltes Wort sagt.