Es begann mit einer Serviette und endet mit einem Fax - und Millionen Taschentüchern. Auf ersterer hat der damalige Barcelona-Sportdirektor Carles Rexach am 14. Dezember 2000 die Unterschrift unter den ersten (informellen) Vertrag für einen zu diesem Zeitpunkt 13-jährigen, schmächtigen Burschen aus Argentinien gesetzt. Mittels zweiterem hat dieser Mann namens Lionel Messi, mittlerweile sechsfacher Weltfußballer, vierfacher Champions-League-Sieger und zehnfacher spanischer Meister, dem Klub nun seinen Abschied mitgeteilt. Und die Taschentücher, die gehen nun bei den Fans weg wie die Klopapierrollen in der Corona-Krise.
Als das Wechselbegehr Messis amtlich wurde, scharten sich die Anhänger zu spontanen Demonstrationen gegen Klub-Präsident Josep Bartomeu vor dem Nou Camp zusammen; Mittwochfrüh zählte das Internet bereits mehr als zehn Millionen Tweets zur Causa Prima im internationalen Sport; selbst beim Tennis-Turnier in New York wurde Andy Murray nach seiner Meinung befragt.
An diesem Tag also sprengte Messi das Netz - so wie er zuvor die Dimensionen beim FC Barcelona gesprengt hatte. Denn die Reaktionen demonstrieren deutlich, welche Bedeutung der 33-jährige Argentinier weit über seine immer noch überragenden sportlichen Leistungen hinaus für den Klub hat(te). Alleine auf Instagram haben 164 Millionen Menschen @leomessi abonniert, womit er auch dem Klub, der um 75 Millionen Follower weniger hat, enorme Reichweite und Aufmerksamkeit beschert. In den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten pilgerten aus allen Ecken der Welt Fußball-Interessierte ins Nou Camp, und am Abend des Abschieds forderte ZiB2-Chefpolitologe Peter Filzmaier in der heimischen Twitteria mit bekannt launigen Worten eine Sondersendung von Armin Wolf: "Würdest du ja auch tun, wenn der Papst im Vatikan kündigt, oder?"
Lieber @ArminWolf, Ihr habt heute eine spannende #zib2 mit dem Finanzminister und Herrn Trump. Doch bitte umstellen, verlängern, Sondersendung oder so. Würdest Du ja auch tun, wenn der Papst im Vatikan kündigt, oder? 😉 Für Fußballfans ist dies dasselbe 👇https://t.co/G3NtQACpMd
Peter Filzmaier (@PeterFilzmaier) August 25, 2020
Jahrelang hat Messi alles verkörpert, was den Verein zu einem stilprägenden der vergangenen Dekade gemacht hat. Aus der hauseigenen La-Masia-Akademie kommend, wurde er 2004 von Frank Rijkaard in die A-Mannschaft geholt, wo er schon als 17-Jähriger Akzente setzte. Im System Pep Guardiolas, der Rijkaards Stil weiterentwickelte, formte er mit Xavi und Andrés Iniesta lange ein magisches Dreieck. Doch auch der Doppelpass mit Kollegen à la Carles Puyol, die vielleicht weniger als Filigrantechniker in Erscheinung traten, funktionierte perfekt - weil Barcelona als Ganzes perfekt funktionierte. Nun schrieb Puyol, der den Verein als Erster dieser Ikonen im Jahr 2014 verließ, auf Twitter: "Respekt und Bewunderung, Leo. Meine volle Unterstützung, mein Freund."
Respeto y admiración, Leo. Todo mi apoyo, amigo.
Carles Puyol (@Carles5puyol) August 25, 2020
Denn das Barcelona von einst, es ist schon länger nicht mehr. Nachdem das Tiqui-Taca Guardiolas, das auch eine Ära im spanischen Fußball mit zwei EM-Titeln 2008 und 2012 sowie dem WM-Erfolg 2010 geformt hatte, sich irgendwann totzulaufen begann, war Barcelona zwar immer noch eine Spitzenmannschaft mit herausragenden Einzelspielern - eine neue Identität suchte man aber ebenso vergeblich wie die Harmonie von einst. Dazu kamen immer wieder öffentliche Scharmützel mit der Klubführung und als Tiefpunkt heuer die erste titellose Saison seit 2007/2008.
Anstelle des Vereinsmottos "Més que un Club" trat zuletzt die Selbstdemontage dieses Vereins. In der Nacht auf Mittwoch sollen mehrere Vorstandsmitglieder intern ihren Rücktritt angekündigt haben, sollte Bartomeu nicht selbst seinen Sessel räumen.
Dabei hatte dieser wenige Tage nach dem desaströsen 2:8 im Champions-League-Viertelfinale gegen den späteren Sieger FC Bayern mit der Beurlaubung des von Messi scharf kritisierten Trainer-Sportdirektoren-Gespanns Quique Setien/Eric Abidal noch ein Signal der Erneuerung setzen wollen. Mit der Bestellung Ronald Koemans zum Chefcoach wollte man zudem an die alte erfolgreiche holländische Schule anschließen, die schon der legendäre Johan Cruyff in den Achtziger- und Neunzigerjahren bei Barcelona implementiert hatte. Es war freilich ein Spielzug, der letztlich sogar zu einem Eigentor geführt haben könnte. Medienberichten zufolge soll Koeman Messis Sonderstellung in Frage gestellt haben. Nach einem Gespräch zwischen dem Neo-Trainer und dem Superstar soll die endgültige Entscheidung gefallen sein.
Gereift ist sie allerdings schon länger. In den vergangenen Wochen war kaum ein Tag vergangen, an dem nicht über einen möglichen Transfer spekuliert worden war. Inter, hinter dem chinesische Investoren stehen, wurde als Kandidat genannt, nachdem seine Familie Anwesen in Mailand gekauft und eine Projektion Messis auf dem Dom für Aufregung gesorgt hatte. Manchester City, das seit der Übernahme durch arabische Scheichs bisher vergeblich einem Champions-League-Titel hinterherläuft und Messis einstigen Erfolgscoach Guardiola an der Seitenlinie hat, ist ebenso ein Anwärter; Gerüchte gibt es aber auch über Interesse seitens des Stadtrivalen United sowie von Paris Saint-Germain. Wobei Interesse wohl jeder Klub hätte, die Frage wird vielmehr sein, wer in der Lage und willens ist, tief genug in die Tasche zu greifen.
Zudem harren rechtliche Fragen einer Klärung. Denn Messi und der FC Barcelona sind - auch ein Zeichen der Entzweiung - unterschiedlicher Auffassung über eine Vertragsklausel, die er nun ziehen will. Diese hatte ihm nämlich zugesichert, den Verein bis zum Ablauf einer Saison ablösefrei verlassen zu dürfen. Eigentlich war diese Frist bis zum 30. Juni anberaumt gewesen. Da sich aber Spiel- und Transferzeit durch Corona verlängerten, ist Messi der Meinung, dass selbiges auch für diese Frist gelten müsse. Nach seiner Abschiedsankündigung sind nun hinter den Kulissen jedenfalls die Juristen am Wort - und vor dem Nou Camp die gleichsam aufgebrachten wie aufgelösten Fans eines Vereins, der nun endgültig nicht mehr ist, was ihn einst ausgezeichnet hat.