Dass Holstein Kiel einmal deutscher Meister war, daran können sich selbst die ältesteingesessenen Fans nur noch aus Erzählungen erinnern. 1912 war das, in den Urzeiten des (Amateur-)Fußballs. Viel eher dagegen denkt man noch an jene Zeiten, in denen die Kieler in den Achtziger-, Neunziger-, Nuller- und früheren 2010er-Jahren zwischen dritter und vierter Spielklasse herumgondelten. Seit 2017/18 spielt Kiel, bis zur Gründung der deutschen Bundesliga immer erstklassig, danach aber eben nie wieder ganz oben dabei, immerhin wieder in der zweiten Bundesliga – und seit Mittwoch darf man sich Champions-League-Sieger-Besieger nennen.
Denn in der zweiten Runde des DFB-Cups setzte sich die Mannschaft von Ole Werner, der nach einer mäßig erfolgreichen Spielerkarriere ausschließlich Stationen im Betreuerstab seines Vereins durchlaufen ist, mit 6:5 im Elfmeterschießen gegen den FC Bayern durch. Nach regulärer Spielzeit und Verlängerung war es 2:2 gestanden.
Nicht nur für Kiel waren die Ereignisse im heimischen Holstein-Stadion, das normalerweise rund 15.000 Zuschauer umfasst, diesmal aber Corona-bedingt bei einem der größten Fußballfeste der Geschichte des Vereins freilich keine Fans empfangen durfte, historisch, dasselbe gilt auch für die Bayern, die dementsprechend verschnupft reagierten. Erstmals seit 17 Jahren kassierte man im DFB-Cup eine Niederlage gegen einen niederklassigen Verein, das bisher letzte Zweitrunden-Ausscheiden ist noch länger her: 2000 war das, gegen den 1. FC Magdeburg und ebenfalls im Elfmeterschießen. Noch schlimmer hatte es die Münchner 1990 erwischt: Damals blamierte man sich schon in der ersten Runde gegen den damaligen Fünftligisten FV Weinheim mit 0:1.
Zweimal Rückstand wettgemacht
Danach, dass der Rekordmeister auch diesmal eine Niederlage einstecken würde müssen, sah es zu Beginn des Spiels in Kiel nicht unbedingt aus. In der 14. Minute sorgte Serge Gnabry für die Führung der Gäste, die dabei auch Glück hatten. Denn in der Bundesliga hätte das Tor, das aus Abseitsposition erzielt wurde, wohl nicht gezählt, Videoschiedsrichter gibt es aber in dieser Bewerbsphase des Cups nicht. Der Außenseiter ließ sich dadurch aber nicht hängen, zeigte gegen die Bayern – bei denen der auch vereinsintern in die Kritik geratene David Alaba erst in der Verlängerung zum Zug kam – eine ambitionierte Vorstellung und kam durch Fin Bartels (37.) zum Ausgleich. Nach der Pause brachte Leroy Sané die Bayern aber wieder in Front (48.), der Ausgleich durch Hauke Wahl fiel erst in der Nachspielzeit (95.), womit das Glück für Kiel wieder zurückkam.
In der Verlängerung gab es keine weiteren Treffer, so dass das Elfmeterschießen die Entscheidung brachte. Nachdem die ersten fünf Schützen beider Teams - darunter auch Alaba - getroffen hatten, hielt Kiels Torwart Ioannis Gelios den Schuss von Marc Rocca ("Ich habe mich richtig entschieden und freue mich riesig"), Bartels verwandelte schließlich souverän gegen Manuel Neuer, womit die Sensation perfekt war.
The #DFBPokal at its best 🏆💯 @Holstein_Kiel see off defending champions @FCBayernEN! Relive the 120+ minutes of cup magic in 180 seconds 🎥 pic.twitter.com/r0tVKiXxft
The DFB-Pokal (@DFBPokal_EN) January 13, 2021
Für die Münchner ist damit die Wiederholung des Triplegewinns aus Meisterschaft, Cup und Champions League nicht mehr möglich. Die Kieler indessen haben schon jetzt einen Meilenstein in dieser Saison erreicht.
"Das lange Wachbleiben hat sich gelohnt", sagte Trainer Werner. "Es ist ein außergewöhnliches Erlebnis für uns und für alle Kieler. Im Elfmeterschießen ist es Glücksache, aber dass wir alle sechs Elfmeter verwandelt haben, spricht für die Klarheit der Jungs am heutigen Tage. Es ist ein Erlebnis, an das wir und alle, die dem Verein und der Stadt Kiel verbunden sind, noch lange denken werden."
Und es war ein Erlebnis, das wohl auch einen weiteren Motivationsschub für diese Saison geben dürfte. Denn das große Ziel - von dem an diesem Tag freilich niemand sprechen wollte - ist der Aufstieg in die Bundesliga, momentan befindet man sich mit nur einem Punkt Rückstand auf Tabellenführer HSV und punktgleich mit Bochum auf dem dritten Platz der zweiten Liga. Die Mittel sind freilich begrenzt. Mit einem Kadergesamtwert von geschätzten 17,63 Millionen Euro liegt der 3.000-Mitgliederverein nicht nur – nona – astronomische Summen hinter den Bayern (891,4), sondern auch in der zweiten Liga im Mittelfeld. Das Rampenlicht aber haben die Nordlichter zumindest für diesen Tag für sich gebucht.