Es ist ein Song voller britischer Selbstironie, Wehmut und unerfüllter Sehnsüchte, den sich die Fans von West Ham United für ihre Vereinshymne auserkoren haben. Im forever blowing bubbles / Pretty bubbles in the air / They fly so high / Nearly reach the sky / Then like my dreams / They fade and die, tönt es zumindest in Nicht-Corona-Zeiten durch das Stadion.
Und man könnte nun vielerlei Klischees bemühen, warum es ausgerechnet dieses Lied sein sollte, dem die Band Cockney Rejects auch eine Punk-Rock-Version widmete; Klischees von den wie Seifenblasen zerplatzenden Träumen manch Werft- und Hafenarbeiter, die den Kultverein - damals noch unter dem Namen Thames Ironworks FC 1895 - dereinst gegründet hatten.
Doch man muss gar nicht so weit in die Vergangenheit zurückgehen, um den Titel passend zu finden. Denn auch die sportlichen Träume der Hammers sind seit den erfolgreichsten Jahren, in denen man dreimal den FA-Cup (1964, 1975, 1980) und einmal, damals noch mit legendären Spielern wie Geoff Hurst, Martin Peters und Bobby Moore, Kapitän der englischen Weltmeister-Mannschaft von 1966, sogar den Europacup der Pokalsieger (1965) gewann, meistens noch zerplatzt.
Doch heuer könnte sich das ändern. Vor dem direkten Duell mit dem Tabellennachbarn Chelsea am Samstag (18.30 Uhr) liegt West Ham nur aufgrund der schlechteren Tordifferenz hinter den Blues auf dem fünften Platz der Premier League. Bei einem Sieg würde man Chelsea überholen und die Runde auf einem Champions-League-Startplatz beschließen.

Zusätzliche Brisanz birgt die Tatsache, dass West Ham und Chelsea eine besondere Rivalität verbindet. Nicht so sehr wie jene der Hammers mit Erzfeind Millwall aus dem Süden Londons, bei deren Spielen es in der Vergangenheit schon zu schweren Ausschreitungen samt einem Todesopfer 2009 gekommen ist, aber auch - und sie hat historisch gewachsene, gesellschaftspolitische Gründe. Schließlich gelten die im eher ärmeren East End beheimateten "Irons", wie West Ham auch genannt wird, als Verein der Arbeiter, während Chelsea aus dem besser situierten Westen eher der Mittel- bis Oberschicht zugerechnet wird.
Auch beim Marktwert trennen die Blues von Roman Abramowitsch und die Hammers Welten: Während der Kader Ersterer vom Branchenportal transfermarkt.de auf 780 Millionen Euro taxiert wird, bewegt sich jener Letzterer bei rund 280 Millionen Euro.
Pornos und eine Ausbildungstradition
Der Eigentümer West Hams mag indessen nicht ganz so reich, aber mindestens ebenso schillernd sein wie jener Chelseas. 2010 hat ein gewisser David Sullivan die Mehrheitsanteile an dem Klub übernommen, ein walisischer Unternehmer, vormals auch bei Birmingham aktiv, der sein Geschäft ebenfalls mit Sehnsüchten gemacht hat - wenn auch auf andere Art. Schon mit Mitte zwanzig stieg er als Mogul der Porno- und Sexindustrie zum Millionär auf. "Ich habe Menschen glücklich gemacht", pflegt er zu sagen, wenn er auf seine Vergangenheit, die ihm einmal auch eine Anklage wegen illegaler Prostitution einbrachte - die allerdings mit einem Freispruch endete -, angesprochen wird.
Nun werden die Menschen eher durch die von David Moyes trainierte Mannschaft glücklich gemacht. Der bei seiner Zeit als Alex-Ferguson-Nachfolger bei Manchester United glücklose Moyes führte den Klub zwar 2017/2018 zum Klassenerhalt und ins Liga-Mittelfeld - damals mit Marko Arnautovic, der es sich danach aber wegen seines Wechseltheaters mit den Fans verscherzte -, musste aber trotzdem gehen.

Nach einem Intermezzo durch Manuel Pellegrini wurde er wieder zurückgeholt - und könnte es nun sogar schaffen, mit West Ham zum ersten Mal in der Geschichte die Qualifikation für die Champions League zu schaffen. Setzte die Mannschaft früher auf einige Individualisten, so ist sie nun eine geschlossene Einheit, die zwar nicht durch die feine Klinge, aber viel Arbeit und Geschlossenheit imponiert.
Einige ragen freilich dennoch aus dem Kollektiv West Hams - das traditionell als Ausbildungsverein gilt, Spieler à la Frank Lampard und Rio Ferdinand hervorgebracht hat und sich nicht ohne Selbstbewusstsein "The Academy of Football" nennt - heraus: Pablo Fornals wird von niemand Geringerem als Ex-Barcelona-Dribblanski Andrés Iniesta mit dem jungen Andrés Iniesta verglichen, Declan Rice (der allerdings im Match gegen Chelsea auszufallen droht), von Trainer Moyes mit einem Marktwert von "viel, viel mehr als 100 Millionen Pfund" angegeben; und Manchester-United-Leihgabe Jesse Lingard ist überhaupt der effektivste Spieler im Frühjahr. Dazu kommen Routiniers wie Torhüter Lukasz Fabianski, die dem Team die nötige Stabilität geben.
Nur mit dem eigenen Eigentümer fremdeln die Fans noch immer ein bisschen. Vor allem den 2016 vollzogenen Umzug vom traditionsreichen Boleyn Ground ins für die Olympischen Spiele 2012 errichtete London Stadium nahmen ihm viele lange übel. Einmal musste er das Stadion sogar unter Polizeischutz verlassen, ein Teil des harten Kerns der Fans gilt seit jeher als wenig zimperlich. Mehrere Filme ("Hooligans", "Cass - Legend of a Hooligan", "Footsoldier") haben diesen wenig ruhmreichen Teil der Geschichte zum Inhalt.
Von Alfred Hitchcock bis zur Queen
Doch es wäre ungerecht, die Hammers-Fans auf der ganzen Welt - der Verein zählt jenseits der Großklubs zu den Mitglieder-reichsten - darauf zu reduzieren. Neben normalen Fans, die das Gros der Anhängerschaft bilden, zählten und zählen sich auch Alfred Hitchcock, "Iron-Maiden"-Bassist Steve Harris, Katy Perry, die Schauspieler Matt Damon und Keira Knightley und auch Prinz Harry dazu. Selbst die Queen hegt Sympathien für den Verein. Sie alle werden West Ham am Samstag mehr oder weniger verborgen die Daumen halten. Und vielleicht ein mehr oder weniger lautes "Im forever blowing bubbles" auf den Lippen haben.