Als der Dampfzug aus Paris in den Kaiser-Franz-Josefs-Bahnhof in Prag einfuhr, hatten die Ordner auf den Bahnsteigen alle Mühe, die jubelnde Menge im Zaum zu halten. Alle wollten sie die frischgebackenen Fußball-Europameister, angeführt vom Rekordtorschützen Jan Kosek, persönlich begrüßen. Kurz zuvor, am 29. Mai 1911, hatte Böhmens Nationalteam das Endspiel des ersten "Grand Tournoi Europeen" in der Geschichte des Kontinents gewonnen - und dies auch noch gegen England, das damals als das stärkste Team der Welt galt. "Fünf Wettspiele trugen die Böhmen aus, und alle fünf gewannen sie mit einem Gesamtscore von 23:6. Das bedeutet einen Durchschnitt von 4:1", schrieb das "Grazer Volksblatt" am 9. Juni, also vor genau 110 Jahren, in einer Kurznotiz. Die meisten übrigen deutschsprachigen Zeitungen der österreichischen Monarchie, darunter auch die "Wiener Zeitung", verzichteten hingegen auf eine Jubelmeldung. Und dies hatte, wie so vieles in jenen unruhigen Jahren, politische Gründe.

Denn ging es nach dem österreichischen Fußball-Verband ÖFV, dem Vorgänger des heutigen ÖFB, hätten die böhmischen Kicker gar nicht erst an dieser inoffiziellen EM-Premiere, die Ende Mai im französischen Roubaix ausgetragen wurde, teilnehmen dürfen. Erstens betrachtete man den 1901 gegründeten tschechischen Fußballverband CSF als abtrünnige Einheit, die eigentlich dem ÖFV zugeordnet war und deren Fußballer daher - anders als die sportrechtlich von Österreich unabhängigen Ungarn - international nicht kicken durften. Und zweitens stellte man die Europameisterschaft in Roubaix als solches nicht zu Unrecht in Frage, wurde doch die EM von 1911 nicht etwa vom zuständigen Weltverband Fifa, sondern von der nicht anerkannten Union Internationale Amateure de Football Association, kurz UIAFA, ausgerichtet.

Tatsächlich waren der ÖFV und die Fifa an dem Streit, der da zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Fußball-Europa schwelte, nicht ganz unbeteiligt. Begonnen hatte alles damit, dass die Tschechen, die sich in der k.u.k. Monarchie von Österreichern und Ungarn bevormundet fühlten, 1906 einen Antrag auf Aufnahme als Fifa-Mitglied gestellt hatten, der auch prompt angenommen wurde. Dabei hatte man die Rechnung ohne den Wiener Wirt gemacht, mit der Folge, dass die CSF auf Betreiben Österreichs beim Weltverband-Kongress am 8. Juni 1908 in Wien wieder hochkant rausgeworfen wurde. Allein die CSF, die sich nicht damit abfinden wollte, dass Topklubs wie Slavia Prag oder Sparta Prag nur noch böhmische Liga-Spiele oder Partien gegen Ungarn bestreiten sollten, ignorierte den Spruch und suchte Unterstützung im Ausland. Mit Erfolg: Im Dezember 1908 hoben die Tschechen mit abtrünnigen englischen und französischen Fußballverbänden, die sich wegen des diskriminierten Status von Amateuren im Fußballbetrieb mit der Fifa überworfen hatten, den ersten europäischen Konkurrenzverband, die UIAFA, aus der Taufe. Dieser schlossen sich später noch weitere Verbände, darunter Galizien, an.

Böhmen deklassiert Lille, Paris

Damit war Böhmen wieder auf der internationalen Bühne zurück und feierte einen Erfolg nach dem anderen. Unter den ungläubigen Augen der österreichischen wie europäischen Öffentlichkeit tourten im Oktober 1909 16 Spieler der CSF durch Frankreich und schossen sich bei "Testspielen" buchstäblich den Frust von der Seele. Einem fulminanten 15:4 gegen Olympique Lille folgte im Stade de Charentonneau an der Seine ein 4:2-Sieg über CA Paris. Die französische Presse war begeistert, die Böhmen spielen, schrieb zum Beispiel die Sporttageszeitung "L’Auto", so "langsam und präzise" wie "englische Profispieler". In den heimischen Gazetten fand sich über die Leistungen der Böhmen freilich kein Wort. Für die deutschsprachigen Verbände und Klubs gab es neben dem ungarischen nur ein Nationalteam in der Monarchie, nämlich Cisleithanien. Und zu diesem gehörte auch Böhmen - auch wenn dies dort niemand wahrhaben wollte.

Dass die Wiener Führung mit den Augen rollte, kümmerte den tschechischen Verband nicht weiter - er versuchte indes mit Resultaten zu überzeugen. Am liebsten wäre es den Kickern gewesen, bei den Olympischen Spielen 1912 in Stockholm anzutreten, aber nachdem dies die Fifa nicht zuließ, fasste die UIAFA 1911 den Beschluss, mit der Grand Tournoi Europeen die erste Europameisterschaft ins Leben zu rufen, wenn auch inoffiziell. Als Hauptaustragungsort wurde das Stade de l’Exposition de Roubaix in der Nähe von Rouen gewählt - und hier sollte die böhmische Nationalelf ihren ersten und einzigen Titel in der Geschichte einfahren. Auf dem Weg nach Frankreich legte man zum Aufwärmen einen Zwischenstopp in der belgischen Hauptstadt ein und fertigte dort den belgischen Klub Bruxelles XI mit 6:1 ab, wobei Kosek, Otto Bohata und Vaclav Pilat je zwei Treffer beisteuerten. Pilat war übrigens neben Josef Belka der einzige Teamspieler, der von Sparta Prag gestellt wurde, die übrigen waren beim Stadtrivalen Slavia Prag unter Vertrag.

Die hohe Dichte an Slavia-Spielern erklärt wohl auch, warum die CSF die Mannschaft in den Dressen des Vereins und nicht in den Nationalfarben des Landes - Rot-Weiß - auf den Platz schickte. Nicht, dass es für die rund 4.000 Zuschauer beim Halbfinale gegen Frankreich im Stadion von Roubaix eine Rolle gespielt hätte. Diese kamen, wie auch die anwesenden Reporter, aus dem Staunen nicht heraus. Was die Fans an diesem 28. Mai 1911 zu sehen bekamen, war, wie die "Dunkerque Sports" berichtete, "eine großartige Partie", die "mit einer bewundernswerten Präzision und Geschwindigkeit" gespielt wurde, wobei die Gastgeber mit Torschüssen "bombardiert" wurden. Frankreich musste sich 4:1 geschlagen geben, und Böhmen stand sensationell im Finale.

Per Doppelpack zum Titel

Dass der Gegner im Endspiel England hieß, war vor allem für Böhmens Teamchef John Madden, genannt Jake, eine große Genugtuung. Als geborener Schotte hatte er als Aktiver für Celtic Glasgow gekickt, bis er 1905 nach einem Besuch in Prag erst von Slavia und dann von der CSF als Trainer engagiert wurde. Es war dies Liebe auf den ersten Blick, zumal Madden bis 1930 als Slavia-Coach in Prag blieb und auch hier 1948 starb. Den 2:1-Finalsieg gegen England vor rund 8.000 Fans errang man knapp, aber verdient: Nachdem Kosak in der ersten Hälfte Aluminium getroffen und Böhmen in der 60. Minute mit 0:1 in Rückstand geraten war, regierten Kosak und Bohata zehn Minuten später goldrichtig - mit einem Doppelpack. Zum Helden des Turniers wurde aber Goalie Karel Pimmer, der nur wenige Minuten vor Abpfiff einen gegen Böhmen gegebenen Elfmeter hielt.

Mit diesem Titelgewinn und zwei abschließenden Tests in Rouen (6:3) und Paris (5:0) fand "die erfolgreichste Expedition, die je der böhmische Fußballsport unternommen hat, (. . .) einen in der Tat glänzenden Verlauf", wie das "Grazer Volksblatt" schrieb. Es sollte der letzte Triumph des böhmischen Wunderteams sein. Mit dem Ausgang des Ersten Weltkriegs war die tschechische Nationalelf, die sich ab 1918 als tschechoslowakisch neu definierte, ebenso Geschichte wie die UIAFA. Böhmens Leistungen werden bis heute übrigens von der Fifa nicht anerkannt. Auch nicht vom Nachfolgerverband der UIAFA, der Uefa, die gern als Erfinderin der "offiziellen" Europameisterschaft gilt. Die Tschechen wissen es besser.