Die Zahl elf besitzt in Mythologie und Religion kaum Bedeutung. Anders ist das hingegen bei Zwölf. Dessen war sich wohl auch der bibelfeste Torhüter beim irischen Fußballklub Milford Everton, William McCrum, vor 130 Jahren bewusst, als er erstmals den Vereinsfunktionären den Vorschlag unterbreitete, Spieler, die in unmittelbarer Nähe seines Tores schubsen oder foulen, mit einem "Strafstoß" zu bestrafen. Als Nähe definierte er den Raum zwischen Torlinie und einer parallel in zwölf Yards Entfernung und quer über das Spielfeld verlaufenden sogenannten "Sühnelinie". Der Penalty selbst sollte laut McCrum von jedem Punkt auf der Linie ausgeführt werden und der Goalie sich bis zu fünf Schritte aus dem Kasten herausbewegen dürfen.
Die irische und die englische Football Association waren von der neuen Idee sofort überzeugt, und so wurde McCrums "Zwölfyarder" noch im Jahr 1891 als Regel aufgenommen und sogar mit Erfolg nach Kontinentaleuropa exportiert, wo der neuartige Strafstoß aufgrund des dort angewendeten metrischen Systems ab 1893 als "Elfmeter" in die Regelwerke einging. Lediglich das mit der Sühnelinie wollte man dann so doch nicht beibehalten, und bald war, bei gleichzeitiger Einführung des bis heute existierenden 16-Meter-Strafraums und der Verbannung des Torwarts zurück an die Torlinie, der Elfmeterpunkt geboren.
Es gibt im Fußball kaum einen anderen Punkt, an dem sich die Emotionen von Spielern, Trainern, Schiedsrichtern, Funktionären und natürlich Fans binnen Sekunden derart schnell auf- und entladen, wie bei diesem unscheinbaren Fleck im Rasen vor dem Tor. Aber auch im Handball oder Hockey löst die Handbewegung des Unparteiischen auf den - hier - Siebenmeterpunkt meistens extreme Reaktionen aus. Psychologisch betrachtet ist es hier weniger die Elfmetersituation selbst - schließlich nimmt man den Vorteil eines Strafstoßes auch für sich selbst in Anspruch - als ihr Zustandekommen, das diese Wallungen auslöst. Während McCrums Penalty seit 130 Jahren unhinterfragt akzeptiert wurde und wird, ist das bei den Elferpfiffen fehlbarer Schiedsrichter so gut wie nie der Fall.
Es ist also diese menschliche Komponente, welche den Elfmeter wieder und wieder in dieselbe Dramatik abgleiten lässt, ein Drama, dem selbst mit technischen Hilfsmitteln wie dem virtuellen Schiedsrichter VAR bisher - vor allem aus der Perspektive der meisten Fans - nur mehr schlecht als recht beizukommen war. Zur oktroyierten Ohnmacht, jeden Elfmeterentscheid eines Referees als Ukas zu begreifen, gesellte sich nun durch den VAR auch noch eine gehörige Portion Intransparenz - vor allem für die Stadionbesucher, die in der Regel nicht die Möglichkeit haben, ein Vergehen per Zeitlupensequenz zu überprüfen. Jubel und Jammer liegen hier, wenn ein an sich bereits erteilter Elferpfiff noch einmal vom VAR revidiert wird, eng beieinander, wie etwa auch das Europacup-Spiel von Rapid gegen West Ham anschaulich gezeigt hat.
Über ärgerliche "Rittberger"
und spektakuläre "Panenkas"
Dass "doppelte Rittberger" (O-Ton Didi Kühbauer), wie sie zuletzt Salzburgs Star Karim Adeyami beim 2:0 gegen Rapid hingelegt hat, nach wie vor in Strafstöße münden können, ist ein Ärgernis, das nicht gelöst ist und für das auch McCrum einst kein Rezept gefunden hat. Dabei bedeutet ja ein Strafstoß noch lange nicht ein Tor, nein, er bildet überhaupt erst die Ouvertüre für den zweiten Teil des ganzen Dramas. Einen Penalty zugesprochen zu bekommen, ist nämlich das eine, ihn auch zu verwerten, das andere. Der Online-Videokanal YouTube und die Fußballannalen sind voll mit an Spannung nicht zu überbietenden Elfmetersituationen, die zudem nicht selten über Weiterkommen oder Titel entschieden, wobei hier die seit 1976 weltweit zur Anwendung kommenden Elfmeterschießen einen besonderen Platz einnehmen.
An der Technik liegt es kaum, ausschlaggebend sind vielmehr die mentale Stärke des Schützen und natürlich König Zufall. Denn darüber, dass der Penalty im Entferntesten irgendetwas mit Fairness zu tun hätte, sollte man sich keine Illusionen machen. Fix ist: In 75 bis 80 Prozent der Fälle trifft der Schütze, bei den Weltmeisterschaften liegt die Quote sogar bei über 80 Prozent. Mathematisch lässt sich das einfach erklären, wenn man bedenkt, dass ein Torhüter rund 18 Quadratmeter Fläche abdecken muss, ihm aber zum Abfangen eines mit bis zu 100 Stundenkilometern heranrasenden Balls nur 0,4 Sekunden bleiben. Wie Wissenschaftler der Universität Erlangen-Nürnberg ermittelt haben, müsste der Tormann mit der Geschwindigkeit eines 100-Meter-Sprinters in die Ecke fliegen, um den Ball noch zu erreichen.
Viele Torhüter springen daher ab, bevor der Ball den Fuß des Schützen verlässt. Wenn der Schütze das ausnützt und den Schuss im richtigen Moment verzögert, kann er den Ball ins freie Eck schießen und trifft fast zu 100 Prozent. Eine andere, nahezu spektakuläre Möglichkeit, den Goalie zu foppen, geht auf den tschechoslowakischen Stürmer Antonin Panenka zurück, der im EM-Finale 1976 gegen Deutschland im Elfmeterschießen weltweit Berühmtheit erlangt hatte. Statt platziert und mit Wucht in eine Ecke des Tors zu schießen, spekulierte er darauf, dass Deutschlands Torhüter Sepp Maier in ein Toreck springen würde, schaufelte seinen rechten Fuß unter den Ball und lupfte das Leder in einem leichten Bogen direkt in die Mitte des Tores. Seitdem wird ein derart geschossener Elfmeter als "Panenka-Heber" bezeichnet - und auch nach wie vor angewandt, wie sehensweite Beispiele von Zinedine Zidane, Andrea Pirlo, Lionel Messi oder auch Zlatan Ibrahaimovic beweisen.
Stehenbleiben ist keine Option, Ballfesthalten auch nicht
Tatsächlich ist die Chance, einen "Panenka-Heber" zu versenken, statistisch hoch, wenn man bedenkt, dass sich 90 Prozent der Torhüter immer für eine der beiden Ecken entscheiden. Mit einer rationalen Entscheidung hat dies wenig zu tun, sondern mit Psychologie und mit Show. Denn laut einer Studie über das Schussverhalten bei Penalties in der Premier League landen je ein Drittel der Bälle im linken Eck, im rechten Eck oder in der Tormitte, was wiederum heißt, dass die Chance für den Goalie, überhaupt irgendwie in die Nähe des Balls zu kommen, immer bei 33 Prozent liegt - egal, welche Reaktion er zeigt. Weil aber ein regungslos dastehender Torhüter in einer Elfmeter-Situation kein gutes Bild abgibt, während links oder rechts das Leder einschlägt, gilt der Wurf in die Ecke als die deutlich akzeptiertere Variante.
Sollte also Österreichs Nationalelf beim WM-Qualifikationsspiel am Wochenende gegen die Färöer einen Penalty zugesprochen bekommen, werden nicht nur im Stadion und an den TV-Schirmen die Emotionen hochgehen, sondern vor allem die Augen auf den Mann im Tor gerichtet sein. Bei der Gelegenheit gilt es mit der Mär aufzuräumen, wonach es auf den Inseln bei Elfmetern die Ausnahmeregel gibt, dass der Ball bei windigem Wetter von einem dritten Spieler festgehalten werden. "Es gibt keine solche Extra-Regel für die Färöer. Das ist eine Sage", betonte das International Football Association Board schon vor Jahren. William McCrum hätte eine solche Regel gewiss amüsiert.