"Wiener Zeitung": Sie waren vor Ihrer Zeit bei Sturm bei jeder Ihrer Trainerstationen erfolgreich - mit Ausnahme der Austria. Im Juli 2020 war der Wechsel von Wien nach Graz sehr abrupt, war das eine Flucht von jener Trainerstation, bei der es am wenigsten funktioniert hat?

Christian Ilzer: Als Flucht würde ich das nicht beurteilen. Es war aber zu einem Zeitpunkt, wo ich gemerkt habe, dass ich die Erwartungshaltungen, die die Austria und die ich an mich selbst gelegt habe, nicht erfüllen kann. Das war eine persönliche Niederlage. Es hätte noch zwei, drei Transferperioden gebraucht, um meine Vorstellungen erreichen zu können. Doch dann hat der SK Sturm angeklopft - aus mehreren Gesprächen wurde mir schnell klar, dass sich hier eine gute Möglichkeit für mich und meine Ambitionen auftut.

Nach einer verpatzten Saison 2019/2020 mit fünf Heimniederlagen in der Meistergruppe entschied man sich bei Sturm für eine Tabula rasa. Man trennte sich von einem erst kurz im Amt weilenden Trainer (Nestor El Maestro) und mehreren Spielern. Der zugleich ausgegebene steirische Weg versprach "schnellen und attraktiven Fußball". In Ihrem ersten Pflichtspiel gelang jedoch mit fünf Offensivkräften nur ein Torschuss gegen St. Pölten - verspürten Sie Druck?

Ich kann mich gut erinnern. Nach einem solchen Umbruch kann nicht alles von heute auf morgen funktionieren. Ich habe in der Vorbereitung gespürt, dass ein guter Zug in dieser Mannschaft ist. Es war mit Sicherheit klug, dass man sich auf keine Tabellenplatzierung festlegen wollte. Man sollte sich auf Ziele festlegen, die man selbst kontrollieren kann, denn auch andere Vereine wollen gewisse Tabellenplätze erreichen. Für mich war es daher das Ziel, step by step einen Zusammenhalt, eine Intensität und eine Mentalität in der Mannschaft zu formen - der sportliche Erwartungsdruck ist dabei sowieso immer ein Begleiter. Wir haben zwar etwas gebraucht um den ersten Sieg einzufahren, aber danach haben wir eine starke Hinrunde gespielt und technisch richtig gut performt.

Tatsächlich ist der sportliche Erfolg sehr schnell gekommen. In der aktuellen Saison hat der SK Sturm in 22 Runden 48 Punkte geholt, in der Meistersaison 2010/2011 waren es zu dieser Zeit 40 Punkte. Trainieren Sie gerade die beste Grazer Mannschaft dieses Jahrtausends?

Saisonen sind immer sehr schwer miteinander vergleichbar. Wir sind aber mit Sicherheit gut aufgestellt, unser Punkteschnitt würde in anderen Ligen für eine Meisterschaft reichen. Aber hier haben wir mit Salzburg den Liga-Krösus, der auch jedes Jahr performt. Wenn man da vorbeikommen will, ist das Wort Wunder fast schon ein zu kleines. Wir blicken auf unsere Leistungen, auf unsere Qualität und versuchen in jedem Training an Schrauben zu drehen, um unser Potenzial zu erweitern. Wir haben in dieser Saison schon Unglaubliches geschafft, allein wenn ich auf einen Transfer blicke, der diesem Verein wirtschaftlich ein Lächeln ins Gesicht gezaubert hat, das bis heute noch nicht vergangenen ist, uns aber sportlich natürlich vor immense Herausforderungen gestellt hat.

Sie sprechen den Transfer von Rasmus Hojlund an, den Sturm für kolportierte 1,8 Millionen Euro verpflichtet und acht Monate später für angeblich mehr als 17 Millionen Euro nach Bergamo verkauft hat. Nervt es Sie manchmal, dass Sie "nur" Trainer eines österreichischen Bundesligisten sind, weil somit klar ist, dass man solche Spieler nicht langfristig halten kann?

Für Sturm Graz war das eine wunderbare Sache, einen 18-Jährigen zu holen und nach so kurzer Zeit mit so einer Marktwertsteigerung weiterzuverkaufen. Es war fantastisch zu beobachten, wie er mit seiner Persönlichkeit und seiner Mentalität bei uns gewachsen ist, obwohl er bei Kopenhagen zuvor oft nur in der zweiten Mannschaft zum Einsatz kam. Spätestens nach seinem Doppelpack gegen Salzburg im August war mir klar, dass Rasmus nicht mehr zu halten sein wird. Ich hätte mir auch für ihn gewünscht, dass er die Europa-League-Saison noch bei uns bleibt. Aber nach einigen Gesprächen war mir dann schnell klar, um was für Summen und sportliche Möglichkeiten es da geht. Da haben wir dann schnell den Markt nach Alternativen durchforstet und sind auch fündig geworden.

Unter Ihrer Trainerschaft feierten fünf Spieler ihr Debüt im A-Nationalteam - was bedeutet Ihnen der individuelle Erfolg Ihrer Spieler?

Für sein Land zu spielen, ist mit Sicherheit die größte Ehre für einen Fußballer. Und wenn das über Sturm Graz möglich ist, ist das ein sehr gutes Zeichen für unsere Arbeit, die wir leisten. Wir wollen jeden einzelnen Spieler weiterentwickeln und jeden Spieler, der zu uns kommt, näher an seine Ziele bringen. So verfolgen wir als Trainerteam das Ziel, unsere Spieler persönlich als auch sportlich bestmöglich zu fördern.

Als Sturm das letzte Mal eine erfolgreiche Entwicklungsphase 2018 mit dem Cupsieg gekrönt hat, verließen danach viele Schlüsselspieler den Verein. Wie groß ist die Sorge vor einem personellen Aderlass?

Bereits die vergangenen zwei Saisonen waren mit Platz drei und Platz zwei ein Riesenerfolg. Obwohl durch Corona die wirtschaftliche Situation sehr angespannt war, haben wir es geschafft, viele Schlüsselspieler zu halten. Andreas Schicker (Geschäftsführer Sport, Anm.) und ich versuchen ein Konstrukt zu entwickeln, in dem sich Spieler weiterentwickeln können und in dem sie in einer Mannschaft stehen, die zusammenhält. Es ist wichtig, dass der Spirit im Team passt, so entsteht eine Dynamik in einer Mannschaft, in der man vielleicht nicht gleich das erst-beste Angebot annimmt. Das gelingt uns, glaube ich, sehr gut.

Früher oder später wird vermutlich auch bei Ihnen ein Angebot eintreffen, das man nur schwer ablehnen kann. Muss der SK Sturm unter Ihnen Meister oder Cupsieger werden, dass Sie zufrieden dieses Kapitel abschließen können?

Ich muss gar nicht wechseln, da müsste schon alles zusammenpassen. Ähnlich wie bei den Spielern geht es darum, einzuschätzen, ob man sich mit einem Verein identifizieren kann und das kann ich mit dem SK Sturm derzeit zu 100 Prozent. Die Arbeit macht mir jeden Tag Spaß, vor allem die Zusammenarbeit mit dem Trainerteam. Die Arbeit mit der hungrigen und entwicklungsfähigen Mannschaft, die wir haben, spornt mich an. Ich sehe noch große Herausforderungen vor uns, beispielsweise erfolgreich zu bleiben und den hohen Erwartungen gerecht zu werden. Das sind die Ziele, denen ich nacheifere, und so gibt es derzeit keinen Zeitpunkt, den ich für mich festlege, wo ich sage: Dann verlasse ich Sturm.

Sie messen Erfolg also nicht in Trophäen?

Nein, das wäre völlig absurd. Wenn ich die Europa-League-Saison hernehme, hat es zwei Spiele gegeben, in denen wir Lazio voll gefordert haben. Gegen den niederländischen Tabellenführer Feyenoord haben wir einmal eine richtige Watsche kassiert, aber einige Wochen später gewonnen. In vier von sechs Partien waren wir großartig, auch wenn es am Ende nicht für den Aufstieg gereicht hat. Wir sind im Cup auch noch dabei, und unsere Spieler entwickeln sich. Und wenn Salzburg am Ende der Spielzeit wieder Meister wird, dann mit Sicherheit, weil sie eine große Qualität besitzen. Ich messe Erfolg nicht an einer Schale im Schrank, sondern bin dann zufrieden, wenn alle Beteiligten alles zum Wohle dieses Vereins gegeben haben und wir danach stolz auf eine weitere großartige Saison sein können.