Vor wenigen Wochen besuchte eine argentinische Wirtschaftsdelegation Indien. Der Chef der staatlichen argentinischen Ölgesellschaft YPF, Pablo González, hatte nicht nur einen Vertrag im Gepäck, sondern auch ein Fußballtrikot von Lionel Messi, das er feierlich Narendra Modi überreichte. Der indische Ministerpräsident hatte Argentinien gleich nach dem Sieg im WM-Finale gegen Frankreich auf Twitter zum Titel gratuliert, und der sonst so streng dreinblickende Hindu-Nationalist freute sich wie ein kleiner Schulbub über das Geschenk.
Außerhalb Argentiniens ist die Begeisterung für die Albiceleste nirgendwo so groß wie in Indien: Das ganze Land trug während der WM 2022 in Katar Blau-Weiß. Im Land der Tempel huldigen sie nicht nur den Hindu-Göttern Brahma, Vishnu und Shiva, sondern auch den Fußballgöttern Maradona und Messi. Insofern war das Trikot auch eine Hommage an die Fußballbegeisterung auf dem Subkontinent mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern.
In Indien regiert eigentlich König Cricket. Doch Fußball wird im Land immer populärer. Die 2014 als Franchise-Unternehmen gegründete Indian Super League (ISL) verzeichnet Jahr für Jahr neue Zuschauerrekorde und hat auf Twitter mehr Follower als die Serie A. Die europäischen Top-Teams haben Indien längst als Wachstumsmarkt erkannt: Der FC Bayern München lud 2016 einen 11-jährigen Inder aus einem Slum zu einem Trainingscamp ein. Die Glasgow Rangers haben eine Partnerschaft mit dem FC Bengaluru vereinbart. Und Atlético Madrid hat in Kalkutta sogar ein - inzwischen wieder eingestelltes - Franchise gegründet. In der ISL ließen Stars wie Alessandro Del Piero, Roberto Carlos und Didier Drogba ihre Karrieren ausklingen.
Seit der Einführung einer Gehaltsobergrenze ist die Promidichte etwas geringer; in der schwülheißen Luft bei 35 Grad Celsius zu spielen, ist nicht jedermanns Sache. Der Begeisterung tat das aber keinen Abbruch, und die 160 Millionen Fußball-Fans sind für Ministerpräsident Modi ein wichtiges Wählerreservoir. Der oberste Fanbeauftragte des Landes nutzt den Sport gezielt als innen- und außenpolitisches Werkzeug. Wann immer er Reden hält, stellt er Bezüge zu Fußballereignissen her oder verwendet Fußball-Metaphern, um den Zuhörern zu schmeicheln. Beim G20-Gipfel 2018 in Buenos Aires betonte Modi die Popularität des argentinischen Fußballs in seinem Heimatland - und postete auf Twitter ein Foto, das ihn mit Fifa-Boss Gianni Infantino und einem blauen Trikot mit seinem Namen zeigt. Eine kleine Anerkennung dafür, dass Indien im Jahr zuvor die U17-Fußball-WM ausgetragen hatte.
"Grüße" nach Peking
Für Modi gibt es keine Zweifel: Indien gehört nicht nur in der Politik, sondern auch im Sport auf die große Weltbühne. Im vergangenen Dezember ließ Modi mit dem Statement aufhorchen, er wolle eines Tages die Fußball-WM in seinem Land ausrichten. Der mächtige Fußballverband AIFF hat Anfang des Jahres unter der Überschrift "Vision 2047" ein 94 Seiten umfassendes Strategiepapier vorgestellt. Das ehrgeizige Ziel: Indien zur neuen Fußballmacht in Asien aufrüsten. Im Rahmen eines nationalen Förderprogramms sollen neue Fußballakademien und Klubs entstehen, Trainer und Schiedsrichter ausgebildet und Trainingsplätze aus dem Boden gestampft werden. Die freundlichen Grüße nach Peking stehen nicht explizit im Papier, sind aber im Subtext zu lesen. Auch das Reich der Mitte hegt unter dem fußballbesessenen Machthaber Xi Jinping große sportpolitische Ambitionen.
Das Referenzjahr ist nicht zufällig gewählt: 2047 wird Indien 100 Jahre Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich feiern. Die englischen Kolonialherren hatten den Fußball einst ins Land gebracht. Doch anders als im Mutterland blieb der Arbeitersport Fußball in Indien lange ein Elitensport. Nachdem Mohun Bagan, einer der ältesten Fußballvereine Asiens, 1911 eine britische Auswahlmannschaft, das East Yorkshire Regiment, bezwang, erwuchs daraus ein neues National- und Selbstbewusstsein: Man hatte die Kolonialherren in ihrem eigenen Spiel geschlagen. Muslime und Hindus feierten gemeinsam den Triumph über den Imperialismus, die Spieler wurden zu Legenden. Der Filmemacher Arun Roy brachte das epochemachende Ereignis 2011 mit dem Film "Egaro, the Immortal Eleven" auf die Leinwand.
Nach der Unabhängigkeit 1947 erlebte der Fußball auf dem Subkontinent eine Blütezeit. 1950 qualifizierte sich Indien zum ersten und bislang einzigen Mal für eine Fußball-WM. Doch wenige Woche vor dem Turnierbeginn in Brasilien stornierte der Verband die Reise. Nicht, weil die Fifa den Spielern verboten hatte, barfuß zu spielen, wie manche Legende behauptet, sondern, weil die Verbandsbosse Olympia für prestigeträchtiger hielten. Als dann bei den Olympischen Spielen 1952 in Helsinki die barfußspielenden Inder mit 1:10 gegen Jugoslawien unter die Räder kamen, wurde das Tragen von Schuhen zur Pflicht.
Unterstützung von Wenger
Mit Schuhwerk eilte das Nationalteam von Erfolg zu Erfolg. Bei den Asiatischen Spielen 1962 holten die "Blauen Tiger" mit einem 2:1-Sieg über Südkorea vor 100.000 Zuschauern in Jakarta die Goldmedaille. Es war der größte Erfolg des indischen Fußballs. Danach ging es bergab. Aktuell belegt Indien Platz 101 der Fifa-Weltrangliste, hinter Ländern wie Sambia, Uganda und Syrien. Doch der Subkontinent, der inzwischen mehr Einwohner als China hat, besitzt Potenzial. Ex-Fifa-Chef Sepp Blatter nannte Indien einst einen "schlafenden Riesen". Der indische Fußballverband will nun an die goldene Ära anknüpfen - und den schlafenden Riesen wachküssen. Der ehemalige Arsenal-Trainer Arsène Wenger, der inzwischen als Fifa-Direktor für "globale Fußballförderung" amtiert, hat bereits seine Unterstützung zugesagt.
Dass beim Aufbau einer Fußballnation noch einiges an Entwicklungsarbeit zu leisten ist, ist allen klar. Der spanische Coach Manolo Márquez, der im vergangenen Jahr Hyderabad zum Meistertitel geführt hatte, hob die regionalen Unterschiede in dem Föderalstaat hervor: "In einigen Bundesstaaten ist Fußball die Nummer eins, in manchen Staaten existiert er gar nicht, in anderen steckt er in den Anfängen", sagte Márquez dem Sportmagazin "The Athletic".
Im September dieses Jahres wird der G20-Gipfel in Delhi stattfinden. Die private Trikotsammlung von Ministerpräsident Modi könnte dann um das eine oder andere Exemplar reicher werden.