Kiew. Es wäre fast nicht aufgefallen, dass Steven Gerrard bei dieser Europameisterschaft mitspielt. Zu groß waren vor der EM in England die Sorgen um andere Dinge, als dass man sich auch noch um den Kapitän hätte kümmern können. Eine Reihe von Spielern hatte mit Wehwehchen zu kämpfen, andere, wie Frank Lampard, fielen für das Turnier gänzlich aus. Dazu kam die Posse um die Nicht-Nachnominierung von Verteidiger Rio Ferdinand, die die englische Öffentlichkeit nachhaltig beschäftigte. Doch nun, nach dem Einzug ins Viertelfinale, in dem die Engländer am Sonntag (20.45 Uhr) in Kiew auf Italien treffen, dämmert der englischen Fußball-Öffentlichkeit langsam wieder, was sie an Gerrard haben kann.

Er ist einer der letzten Routiniers, die sich in diesem englischen Kader, dem drittjüngsten des gesamten Turniers, finden. Und er ist Teil einer Generation, die die Engländer schon zu oft enttäuscht hat. Die Verteidiger Ashley Cole und John Terry sind mit Gerrard nach den Ausfällen von Lampard und Ferdinand die letzten verbliebenen dieser Generation, von der sich die Engländer erhofft hatten, dass sie nach 1966 endlich wieder eine Weltmeisterschaft oder zumindest eine Europameisterschaft gewinnen kann. Andere Mitglieder dieser Generation wie David Beckham und Paul Scholes sind schon lange nicht mehr dabei. Gerrard führt nun eine Generation an, von der die Engländer noch nicht genau wissen, was sie zu erwarten haben, zunächst waren sie aber grundpessimistisch.

Das hat sich nach der Vorrunde aber bereits gewandelt. Daran hat auch Gerrard mit je einer Torvorarbeit in allen drei Vorrundenspielen seinen Anteil. Zumindest ihn überrascht das bisher einigermaßen souveräne Auftreten der Engländer mit dem Sieg in Gruppe D nicht. "Es haben nicht viele an dieses Team geglaubt, aber ich habe meinen Glauben immer bewahrt, weil ich weiß, dass wir sehr gute Spieler in der Mannschaft haben", sagt Gerrard, der glaubt, dass noch mehr in der Mannschaft steckt. "Ich glaube nicht, dass wir bisher über uns hinausgewachsen sind. Ich glaube, dass wir das geleistet haben, was wir können." Das sind aber andere Qualitäten, als sie frühere englische Teams mit Gerrard besessen haben. "Wir hatten vor wenigen Jahren wirklich viele starke Spieler", sagt Gerrard. "Aber das aktuelle Team besitzt großen Kampfgeist."

Kein Titelsammler

Gerrard ist erst seit relativ kurzer Zeit wieder auf höchstem Leistungsniveau, im Jahr 2011 hat er aufgrund einer Leistenverletzung und einer Knöchelentzündung kaum gespielt. In der vergangenen Saison kam der Liverpool-Kapitän nur auf 18 Meisterschaftseinsätze, die wenigsten seit seiner Debütsaison 1998/99. Mit mittlerweile 32 Jahren wird Gerrard auch nicht mehr ewig auf diesem Niveau spielen können. Seine Karriere zeichnet eher die Treue zu Liverpool, wo er in einem Sozialwohnbau aufwuchs, als das Sammeln von Titeln aus. Sicher, mit seinem Stammverein gewann er 2005 die Champions League, holte zweimal den FA- und dreimal den Ligacup. Doch Meistertitel gelang Gerrard noch keiner, und ein solcher wird sich angesichts der finanziell übermächtigen Konkurrenz aus Manchester und London wohl auch nur mehr schwer ausgehen.

In Liverpool ist wenigstens sein Status als unverzichtbare Vereinslegende unbestritten. Im Nationalteam ist das mangels Erfolgen anders. Zu viele Teamchefs sind an der Aufgabe gescheitert, Charaktere wie Gerrard, Beckham, Lampard oder Scholes in ein Mittelfeld zu pressen. Schließlich litt die Leistung aller. Das ist unter Neo-Teamchef Roy Hodgson anders. Auch mangels Alternativen ist klar, dass Gerrard der Herrscher im Mittelfeld ist. "Er spielt wirklich durchgehend wie ein Kapitän", sagt Hodgson, unter dem Gerrard erstmals erste Wahl als Kapitän ist.

Auch die Italiener, Englands Gegner im Viertelfinale, zeigen Respekt vor Gerrard. "Er war immer mein Idol. Gerrard ist eine Legende in Liverpool. Er hat immer für diesen Verein gespielt und ist mit ihm verschmolzen. Und so etwas finde ich gut. Gerade in der heutigen Zeit, in der es so eine Treue kaum noch gibt", sagt Claudio Marchisio, italienischer Mittelfeldspieler. Doch auch seine Rivalen verbinden Gerrard offensichtlich eher mit Liverpool als mit England. Dieses Turnier ist vielleicht seine letzte Chance, neben seinem Status als Liverpool-Legende auch im Teamtrikot Heldenstatus zu erlangen.