Kiew. Die zehnte Minute des EM-Finales hat Spanien den ersten Sieg gebracht. Der Schuss von Xavi strich zwar knapp über die Latte, doch dieser ersten Chance waren drei Minuten Ballbesitz der Spanier vorangegangen, die lediglich ein, zwei Mal durch Abwehraktionen der Italiener unterbrochen wurden. Es waren jene entscheidenden Minuten des Finales, in denen die Spanier genau das fanden, das sie suchten und das ihnen die Italiener streitig machen wollten: Kontrolle. "Was ist das Wichtigste?", fragte Teamchef Vicente Del Bosque nach dem Spiel, und er gab die Antwort darauf gleich selbst: "Unser Spiel so zu spielen, wie wir es kennen."
Das unnachahmliche Pass-Stakkato ist das Werkzeug, mit dem die Spanier seit Jahren mit höchster Präzision operieren, es ist die Spielweise des nun dreifachen Champions. Doch die Titel sind für die Spanier mehr Belohnung für ihren Weg, nicht das primäre Ziel. So hat sich etwa die grundsätzliche Idee ihres Spiels über die Jahre verändert.
Bei der Euro 2008 war bis zum Viertelfinale noch alles wie gehabt: Die Spanier brillierten wie eh und je, wenn es um Heidelbeeren geht, in der ersten K.o.-Runde gegen Italien war der Glanz dann plötzlich weg. Doch Spanien siegte entgegen den eigenen Erwartungen im Elferschießen, es war die Geburtsstunde dieser Mannschaft als Siegerteam. Schönen Fußball zu spielen war bekanntlich auch in den Jahrzehnten davor nicht das Manko der Spanier.
Bei der WM in Südafrika ging es für sie dann darum, die Überlegenheit ihrer Philosophie zu demonstrieren. Barcelona hatte sich auf Klubebene zum Um und Auf entwickelt und damit das Nationalteam in seiner Spielweise bestätigt. Del Bosque verzichtete zugunsten eines weiteren Mittelfeldspielers auf eine der beiden Stürmerpositionen. Die neue Stoßrichtung war vorgegeben: Dominanz. Vor allem in der Finalphase, der einstigen Achillesferse, erreichten die Spanier dann auch diese angestrebte Dominanz. Auch wenn die Ergebnisse knapp ausfielen, war etwa Deutschland im Halbfinale völlig chancenlos.
In Polen und der Ukraine waren die Spanier die großen Gejagten, sie hatten in der Qualifikation keinen Punkt liegen gelassen, bei der Euro 2012 hatten sie daher einiges zu verlieren. Da David Villa verletzungsbedingt fehlte, entschied sich Teamchef Del Bosque, die Stärke, das Mittelfeld, noch stärker zu machen und brachte Cesc Fàbregas.
Fast ein Vorrundenschock
Als dominantes Team der vergangenen Jahre strebten die Spanier bei dieser EM nach Kontrolle. Sie sind schließlich die Besten, herausfordert von den Nächstbesten, die unterschiedliche Strategien gegen Spanien entwickelt haben. Del Bosques Gegenmittel war es, die Kontrolle als Ideal auszurufen. Wenn seine Mannschaft die Partien kontrollieren würde, dann kann ihr fast nichts passieren - außer ein unglückliches Ausscheiden, vor dem kein Team der Welt gefeit ist. Doch das große Unglück brach nur beinahe über Spanien herein, als der Kroate Ivan Rakitic fast mit einem Kopfballtreffer dafür gesorgt hätte, dass der Titelverteidiger schon in der Vorrunde hängenbleibt.
Doch Antonio Di Natale blieb der einzige Spieler, der den Spaniern bei der EM ein Tor machen konnte. In K.o.-Spielen ist Iker Casillas seit dem WM-Achtelfinale 2006 ohne Gegentreffer. Italien kam einem Tor sowohl vor der Pause, als auch unmittelbar danach durch Di Natale recht nahe, doch dann nahm ihnen die Verletzung von Thiago Motta, für den kein Spieler mehr eingewechselt werden durfte, jegliche Chance, noch einmal zurückzukommen.
Doch dieses Spiel, dieser 4:0-Erfolg, machte noch einmal sehr deutlich, warum Spanien derzeit mit Abstand das beste Team der Welt stellt. Im heutigen Fußball sind Raum und Zeit knappe Güter geworden. Die Spieler sind fitter und schneller als früher, und das ballorientierte Verteidigen ist längst Usus. Das hat zur Folge, dass sich häufig 70 Prozent aller Spieler rund um den Ball auf etwa 500 Quadratmeter positionieren, obwohl ein Spielfeld etwa 7000 Quadratmeter misst.
Die Besten in der Not
Durch die vielen Pässe und ständigen Spielverlagerungen haben die Spanier die beste Lösung für das Problem der Verknappung des Raums gefunden. Dazu kommt, dass die Qualität ihrer Fußballer, die überragende Technik eines Andrés Iniesta oder eines Xavi den Spaniern erlaubt, auch unter Zeitdruck und Raumnot den perfekten Pass zu spielen. Und sie verfügen über die Spielintelligenz, genau zu wissen, was sie wann spielen müssen.
Die ersten beiden Tore im Finale waren dafür Beleg. Zuerst zerschnitt Iniesta mit einem Pass auf Fàbregas die an sich gut formierte italienische Abwehr, beim 2:0 spielte dann Xavi genau in den Raum zwischen zwei Verteidiger, in den Jordi Alba gesprintet war. Dieser Pass hätte nicht zehn Zentimeter weiter links oder rechts, nicht schneller oder langsamer sein dürfen, sonst wäre er wohl nicht angekommen. Doch Xavis Pass war perfekt.
Längst hat Spanien Nachahmer gefunden, nicht zuletzt in Finalist Italien, das in der EM-Qualifikation das Team mit dem durchschnittlich zweithöchsten Ballbesitz hinter Spanien war. Bei der EM hat es für die Italiener nicht ganz gereicht, doch sie haben in Phasen der ersten Hälfte, als sie die Spanier unter Druck setzten, gezeigt, dass auch der dreifache Champion bezwingbar ist. Und zwar mit seinen eigenen Mitteln.
Dazu braucht es freilich herausragende Spieler, und über diese verfügen nicht viele Mannschaften. Diese goldene Generation mag zwar irgendwann abdanken, doch Xavi lernt bei Barcelona derzeit gerade seinen Nachfolger Thiago an, hinter Casillas lauert bereits Manchester-Torhüter David De Gea, und um einen Ersatz für Iniesta zu finden, hat Spanien noch ein paar Jahre Zeit. Der zum besten Spieler der Euro 2012 gewählte Iniesta ist erst 28.
Für die WM in Brasilien wird sich die Mannschaft wieder etwas Neues einfallen lassen, vielleicht geht es ihr ja dann um Exzellenz, um Perfektion oder ums Spektakel. Die prinzipielle Spielweise aber wird sich nicht ändern, das hat Del Bosque klargemacht: "Spanien wird so weiterspielen wie bisher - und zwar noch lange nach Brasilien." Die Konkurrenz muss wohl darauf hoffen, dass die Spanier einmal Pech haben oder sich der Fußball so weiterentwickelt, dass die Qualitäten der Spanier weniger wichtig werden.
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