London/Moskau. (art/apa) Es sei eine "institutionelle Verschwörung", eine "institutionalisierte Strategie zur Medaillenbeschaffung", eine "Weise der Korruption, die nie dagewesen sei", sagte Richard McLaren nach Vorlage des zweiten Teils seines Untersuchungsberichts zum mutmaßlichen Staats-Doping- und Vertuschungssystem in Russland. Nachdem der von der Welt-Anti-Doping-Agentur beauftragte Chefermittler schon im ersten Teil seines Reports Belege dafür gefunden hatte, wurden bei seinen weiteren Recherchen neue Details bekannt. Demnach seien 1000 Sportler zwischen 2011 und 2015 Teil des Systems gewesen - entweder, indem sie selbst von der Manipulation ihrer Dopingproben profitiert hätten, oder indem sie zumindest davon gewusst und daran beteiligt gewesen seien.
Betroffen seien Sommer- wie Wintersportler, Olympia- wie Paralympics-Teilnehmer. Stellen wie das Sportministerium, die russische Anti-Doping-Agentur, das Moskauer Kontrolllabor sowie der Geheimdienst hätten dabei kollaboriert. "Es gibt Beweise, das sind Fakten", betonte McLaren nach Auswertung von Zeugenaussagen, DNA-Proben, Daten, Mails und mehr als 4000 Excel-Sheets. Das Bild, das sich schon im ersten, im Juli veröffentlichten Teilbericht abgezeichnet hätte, habe sich nun verdichtet. Komplett sei es aber nach wie vor nicht, räumte McLaren ein. Man habe nur Zugang zu einem "kleinen Teil" der Daten erhalten, viele Computerdateien seien nicht mehr aufzutreiben gewesen - eine Taktik, die Russland schon bei der Untersuchung der Korruptionsvorwürfe rund um die umstrittene Fußball-WM-Vergabe 2018 verfolgt hatte.
Welche Konsequenzen Russland, dessen Vertreter staatliches Doping stets dementiert und von einer Intrige des Westens gesprochen hatten, nun zu befürchten haben, ist vorerst noch unklar, IOC-Präsident Thomas Bach hatte kurz vor der Veröffentlichung des Reports noch vor "voreiligen Schlüssen" gewarnt. In einer ersten Stellungnahme danach verwies das IOC auf laufende Untersuchungen in zwei eigens eingesetzten Kommissionen sowie Nachtests der Dopingproben. Zu der Möglichkeit eines von vielen, auch der österreichischen Anti-Doping-Agentur, geforderten Komplettausschlusses russischer Sportler äußerte man sich indessen nicht.
In dem Bericht ist die Rede davon, dass Dopingproben von zwölf Medaillengewinnern der Winterspiele 2014 in Sotschi verschwunden oder manipuliert worden seien, davon von vier Goldmedaillengewinnern, Namen werden aber keine genannt. Es sei nicht seine Aufgabe gewesen, Einzelpersonen Doping nachzuweisen, erklärte McLaren. Vielmehr obliege es nun den Sportfachverbänden und dem IOC, auf Basis der neuen Erkenntnisse Disziplinarmaßnahmen zu ergreifen, führte der Kanadier aus. In den vergangenen Monaten sind vom IOC bereits etliche russische Sportler aufgrund von Nachtests überführt und gesperrt worden. Dennoch ist McLaren nicht allzu zuversichtlich: Seine Arbeit sei beendet, "dasganze Ausmaß wird man wohl nie kennen", sagte er.
Chronologie des Skandals:
3. Dezember 2014. Der ARD-Dokumentarfilm "Geheimsache Doping - Wie Russland seine Sieger macht" enthüllt dank der Whistleblower Julia Stepanowa und Witali Stepanow, dass die Erfolge der russischen Leichtathleten offenbar Ergebnis von systematischem Doping, Vertuschung von Kontrollen und Korruption waren.
9. November 2015. Die unabhängige Kommission der Welt-Anti-Doping-Agentur liefert in ihrem ersten Bericht Nachweise für umfassende Doping-Praktiken in der russischen Leichtathletik.
13. November 2015. Der Leichtathletik-Weltverband (IAAF) suspendiert Russlands Verband.
17. Juni 2016. Das IAAF-Council bestätigt die Sperre für die russischen Leichtathleten und damit den Olympia-Ausschluss in Rio. Nur einzelne Athleten könnten unter neutraler Flagge teilnehmen, sofern sie glaubhaft machen können, nicht ins Doping-System Russlands involviert zu sein.
18. Juli 2016. Im ersten Bericht von Wada-Chefermittler McLaren wird belegt, dass es eine Verwicklung auch des russischen Geheimdienstes FSB bei der Vertuschung von Doping-Fällen bei den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi gab. Auslöser der Untersuchung waren die Vorwürfe von Gregori Rodschenkow, dem ehemaligen Leiter des Moskauer Anti-Doping-Labors.
24. Juli 2016. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) entscheidet, dass die russische Mannschaft trotz der Doping-Vorwürfe nicht komplett von den Sommerspielen in Rio ausgeschlossen wird.
9. Dezember 2016. Mehr als 1000 russische Sportler seien von 2011 bis 2015 Teil einer groß angelegten staatlichen Dopingpolitik gewesen, teilt McLaren in seinem zweiten Bericht mit. Es seien auch Beweise gefunden worden, dass Dopingproben von insgesamt zwölf Medaillengewinnern der Olympischen Winterspiele in Sotschi 2014 manipuliert worden seien, darunter von vier Goldmedaillengewinnern.