Wer am Dienstag versucht hat, über die Website www.anna-gasser.com mehr über die alte, neue Olympionikin im Big Air herauszufinden, der musste ein wenig Geduld aufbringen. Nicht nur nahm das Laden der Startseite oder mancher Videos mehr Zeit in Anspruch als üblich - die Fotos zum Beispiel waren gleich gar nicht abrufbar -, auch fehlte in der Rubrik "Bio" und auch sonst der wohl wichtigste Hinweis, nach dem die User an diesem Tag gesucht haben: der Gewinn von Anna Gassers zweiter Goldmedaille bei Olympischen Spielen. Möglicherweise war das zuständige Medienteam der Kärntnerin trotz der erhöhten Zugriffszahlen auch mit anderen Dingen zu sehr beschäftigt, als sich um so etwas Altmodisches wie eine personalisierte Homepage zu kümmern. Dafür war man auf Social Media schneller, wo Österreichs Goldgirl mit Trophäe und rot-weiß-roter Fahne stilgerecht in Szene gesetzt wurde. Nach nur fünf Stunden hatte das Posting bereits knapp 50.000 Klicks beisammen, garniert mit Herzerln von Julia Dujmovits, Anna Veith und Co.
Und das Interesse ist gerechtfertigt. Seit die Snowboard-Showdisziplin Big Air vor wenigen Jahren ins olympische Programm aufgenommen wurde, gibt es nur eine Siegerin. Schon 2018 hatte die 30-Jährige in Pyeongchang gewonnen, aber auch in vielen anderen Bewerben räumte sie zuletzt ab, so etwa bei den X-Games in Fornebu 2019 und Hatfjell 2020 oder beim Air & Style in Peking. Hinzu kam die "kleine Glaskugel" für den Slopestyle-Weltcup in der Saison 2020/21. Die Goldmedaille im Big Air ist aber auch deswegen bemerkenswert, als die Vorbereitungen alles andere als zufriedenstellend verlaufen waren, wie Gasser selbst im Interview einräumte. "Es hat heuer nie hundertprozentig gepasst, und heute, nach all den Monaten in denen ich ein bisschen Pech hatte, hat alles zusammengepasst", japste sie ins Mikrofon. "Es wird dauern, bis ich das realisiere. Es ist so unerwartet für mich."
Wobei, so ganz unerwartet kam der Triumph auch nicht, war doch die Athletin mit ganz klaren Vorstellungen in das Reich der Mitte gereist. Sie wusste, dass sie die Kampfrichter mit etwas noch nie Dagewesenem beeindrucken musste, und das macht auch die Disziplin Big Air ja so interessant und unberechenbar. Im Gegensatz zum herkömmlichen Wettkampf gegen die Zeit sind hier nicht bloß Muskeln, Schneid und Aerodynamik, sondern noch mehr Kreativität und Intelligenz gefragt. Die Hauptleistung besteht im Grunde aus einem einzigen Sprung und wird von den Athletinnen und Athleten, wie der Name Big Air schon sagt, in der Luft abgeliefert, wobei eine einzelne große Rampe, Kicker genannt, als Absprungbehelf dient. Ziel der Fahrerinnen und Fahrer ist es, mit entsprechendem Anlauf die Schanze zu passieren und zu versuchen, in der Luft einen Trick auszuführen und danach wieder sicher im Schnee zu landen. Man kann sich den Big Air gewissermaßen als Mischung aus Skispringen und Eiskunstlauf vorstellen - je exklusiver der Trick, desto besser auch das Punkteresultat.
Dreieinhalb Drehungen über Kopf
Schon beim Zuschauen kann einem dabei schwindlig werden. Bei den Bezeichnungen, die die Tricks tragen, ist es übrigens nicht viel anders. Gasser wählte für ihren Siegsprung in China den Cab Double Cork 1260, nachdem sie zuvor mit einem Frontside Double Cork 1080 und einem Backside Double Cork 1080 ins Finale gehüpft war. Allein ihr geheim gehaltener und perfekt ausgeführter Goldsprung bestand aus dreieinhalb Drehungen - davon zwei über Kopf. "Dass es so gut gelaufen ist, dass ich den letzten Sprung zeigen habe können, den habe ich ja so hart trainiert, da bin ich einfach überglücklich", meinte die Sportlerin des Jahres 2018. Dass Gasser gern Neues ausprobiert, ist ja fast schon ihr Markenzeichen. So gelang ihr etwa im November 2013 als erster Frau der Cab Double Cork 900, ein doppelter Rückwärtssalto mit zweieinhalb schraubenförmigen Drehungen.
Erfunden wurde der Big Air im Übrigen vom Tiroler Snowboarder Martin Freinademez, der am 17. Jänner 1994 den ersten Air & Style Contest auf der Innsbrucker Bergisel-Schanze veranstaltete. Damals war Gasser keine drei Jahre alt. Dass der anfänglich von vielen Seiten belächelte Snowboard-Sport heute längst seinen Platz im österreichischen Wintersportzirkus gefunden hat, ist zweifellos ein Verdienst von Pionieren wie Freinademez, aber auch einer klugen PR-Maschinerie, die einst mitgeholfen hat, das negative Image der im Schnee liegenden Brettfahrer zu korrigieren. Heute kommt man mit der Pflege dieses Images mitunter sogar nicht mehr nach. Klick nach, auf www.anna-gasser.com.