"Wiener Zeitung": Vor 25 Jahren gelang Ihnen der erste von fünf Abfahrtssiegen in Kitzbühel. Das war der Türöffner Ihrer Karriere. Und es gibt wohl nicht viele Rennläufer, die ihren ersten Weltcuperfolg ausgerechnet auf der Streif feiern.

Didier Cuche: Ja, das war schon ganz speziell - vor allem wegen der Vorgeschichte, weil ich mir 1996 im Überseetrainingslager Schien- und Wadenbein gebrochen hatte. Und dass ich davor die Qualifikation fürs Nationalteam schaffte, verdankte ich meinem ersten Resultat in Kitzbühel (Platz 22, Anm.). Ich kann mich auch noch gut an meine allererste Trainingsfahrt auf der Streif erinnern - das war kein Vergnügen! Von den ersten fünf sind vier gestürzt, und drei mussten mit dem Helikopter ins Krankenhaus. Das war schrecklich am Start. Es sind dann einige mit der Gondel ins Tal gefahren, mein Ego hat mich irgendwie gezwungen, zu starten. Ich bin dann mit acht Sekunden Rückstand ins Ziel, weil ich auch die Steilhang-Ausfahrt verpatzte und mit dem Ski am Netz war - aber meine Arme sind hochgegangen, wie wenn ich gewonnen hätte. Und die anderen Athleten im Ziel haben sich natürlich zu Tode gelacht.

Didier Cuche. An keinem Weltcuport war der 48-jährige Schweizer erfolgreicher als in Kitzbühel: Fünf Mal gewann er die Abfahrt (1998, 2008, 2010-12), ein Mal den Super G (2010). In dieser Disziplin holte der 21-fache Weltcupsieger bei der WM 2009 auch seine einzige Goldmedaille. In der Königsdisziplin gewann Cuche zwei Mal nur Silber (2009/11), dafür vier Mal Abfahrts-Kristall. - © APA/EXPA/JFK
Didier Cuche. An keinem Weltcuport war der 48-jährige Schweizer erfolgreicher als in Kitzbühel: Fünf Mal gewann er die Abfahrt (1998, 2008, 2010-12), ein Mal den Super G (2010). In dieser Disziplin holte der 21-fache Weltcupsieger bei der WM 2009 auch seine einzige Goldmedaille. In der Königsdisziplin gewann Cuche zwei Mal nur Silber (2009/11), dafür vier Mal Abfahrts-Kristall. - © APA/EXPA/JFK

An die erste Fahrt in Kitzbühel kann sich offenbar jeder Rennläufer ganz genau erinnern.

An alles nicht mehr so genau, aber durch meinen Fehler nach dem Steilhang habe ich gleich einmal viel gelernt.

Ihr Sieg 1998 war ja auf einer Sprintabfahrt in zwei Läufen, zudem wurde der Hausberg umfahren. Hat das Ihren Erfolg geschmälert - oder ist Kitzbühel Kitzbühel?

Durch die ganze Vorgeschichte mit der Verletzung, als ich auch schon überlegt hatte, die Karriere zu schmeißen, war es natürlich sehr speziell. Aber innerlich habe ich gewusst, es war nur die Sprintabfahrt. Als ich am nächsten Tag von ganz oben Zweiter wurde, war es vielleicht der noch größere Erfolg für mich.

Kurz darauf gewannen Sie bei Olympia in Nagano Silber im Super G - also in jenem legendären Rennen, wo Hermann Maier nach seinem schweren Sturz wiederauferstanden ist. Der hatte zuvor Kitzbühel ausgelassen, weil ihm der Rummel zu viel war. Es führen offenbar viele Wege zum Erfolg.

Stimmt. Er hat damals auch alles richtig gemacht und später noch die Streif-Abfahrt gewonnen. Viele Wege führen nach Rom.

Sie mussten dann zehn Jahre warten, bis Sie die Streif zum zweiten Mal gewinnen konnten. Sind Ihre fünf Abfahrtserfolge ein Rekord für die Ewigkeit? Dominik Paris und Marco Odermatt hätten von den Aktiven eventuell das Zeug, Sie zu überbieten.

Mich hat in Kitzbühel stärker gemacht, dass ich die Strecke über die Jahre immer besser in den Griff bekommen habe - ich also heil runtergekommen bin und auch schnell war. In Abfahrt wie im Super G.

Rekorde sind gemacht, um gebrochen zu werden - das macht den ganzen Mythos Streif ja erst schön und spannend. Marco hat natürlich die Fähigkeiten, aber das ist ein bisschen weit in die Sterne geblickt. Paris hält schon bei drei Siegen, mit ihm ist auch heuer zu rechnen - auch, wenn er nicht so top drauf ist.

Wenn man sich insbesondere Ihre letzten drei Siegfahrten ansieht, wirkt alles so spielerisch leicht. Es ist nicht dieser Kampf Mann gegen Berg. Vor allem die Eberharter-Linie von 2004 vor der Querfahrt haben Sie dann perfektioniert ...

Die Gratwanderung im oberen und unteren Drittel ist in Kitzbühel so schmal wie nirgendwo. Unten habe ich mich von Anfang an wohlgefühlt - soweit man sich hier wohlfühlen kann. Die "perfekte Fahrt" von Eberharter habe ich mehrmals angeschaut - sie war sehr inspirierend. Auch, wenn sie nicht immer nachzumachen war.

Diese Linie gibt es nun aber nicht mehr. Nach Stürzen beim Zielsprung vor zwei Jahren wurde nach der Hausbergkante ja umgesteckt und ein Bremsschwung eingefügt. Was halten Sie davon?

Ich bin überhaupt kein Fan davon. Das ist nicht mehr das originale Kitzbühel. Ich verstehe zwar das Organisationskomitee, Lösungen zu suchen - aber wenn das Ziel war, nicht mehr so schnell beim Zielsprung zu sein, muss man sagen: Ziel verpasst. Weil die Fahrer voriges Jahr ja wieder bei 140 km/h waren. Relevant ist einzig, wie der Schanzentisch beim Zielsprung gebaut ist. Wenn der passt, sollte es zu 99 Prozent kein Problem sein - auch mit 145 km/h nicht.

Allerdings gab es ja vor zwei Jahren unter anderem den Sturz von Urs Kryenbühl. Der Schnee war am Renntag plötzlich extrem schnell, außerdem kam im Rennen Wind auf. Für die Organisatoren ist das auch immer eine Gratwanderung.

Dass beim Zielsprung alles nach Plan läuft, ist nicht abhängig davon, wie man die Hausbergtraverse fährt! Da bin ich überzeugt. Aber dafür nimmt man was weg vom Mythos Kitzbühel. Ich hoffe, sie gehen wieder zurück auf die normale Kurssetzung. Schneller Schnee sollte kein Problem sein, und bei Wind ist halt die Jury gefragt, ob es geht oder nicht.

Was ist das Besondere an Kitzbühel, was macht die Streif aus?

Im Gegensatz zu anderen Strecken hast du nie unbedingt ein schönes Gefühl, weil du immer an die Grenzen kommst. Du kannst auch kontrolliert runterfahren - aber, wenn man schnell sein will, muss man riskieren. Und wenn man es geschafft hat und das ganze Adrenalin im Blut steckt, ist es natürlich auch sehr schön.

Aber nicht nur Mut ist nötig, auch gute Gleitfähigkeiten.

Genau. Das erste Drittel ist Rock’n’Roll, aber danach musst du ein guter Gleiter sein und den Schwung von oben mitnehmen. Ich war ganz oben nicht immer der Schnellste, habe dann aber das Tempo vom Steilhang ins Flachstück mitnehmen können.

Was waren Ihre schlimmsten Momente in Kitzbühel?

Sicher die grausamen Stürze von Daniel Albrecht, Scott Macartney und Hans Grugger. Bei Albrecht (2009, Anm.) wollte ich ihm im Training noch zusehen, weil er damals extrem gut drauf war. Aber bei seinem Sturz beim Zielsprung habe ich dann gleich weggesehen. Und diesen Sturz bis zum Karriereende nie komplett angeschaut. Das war eine Art Schutzmechanismus. Dasselbe war bei Grugger (Sturz in der Mausefalle 2011, Anm.) der Fall.

Und Sie selber hatten nie brenzliche Momente auf der Streif?

Nur einmal hat es in der Kompression nach der Mausefalle mein Gesäß auf die Bindung gedrückt - aber gleich wieder aufgestellt. In der Nähe eines Sturzes bin ich nie gekommen. Aber es ist für mich schwer nachzuvollziehen - auch bei den Siegesfahrten -, wie nah war ich bei dieser Gratwanderung der falschen Seite, dem Abgrund war. Ich bin heilfroh, dass ich das jetzt nicht mehr leisten muss.

Wo ist es für einen Schweizer eigentlich schöner zu gewinnen - in Wengen oder Kitzbühel?

Am besten wäre natürlich das Double, leider habe ich es am Lauberhorn nie zum Sieg geschafft. Das hätte ich natürlich auch gerne gehabt. Aber in Kitzbühel zu gewinnen, macht für einen Schweizer den Pfeffer in der Suppe. Es ist ja die Höhle des Löwen. Dort zu gewinnen ist nicht spezieller, aber anders speziell.

Zwei Mal knapp verpasst haben Sie in Ihrer Karriere auch das ersehnte Gold in der WM-Abfahrt. Fehlt das persönlich - oder werden diese Statistiken überbewertet?

Am Ende ist es, wie es ist. Aber davon lebt natürlich der Sport. Wenn man sich jetzt Beat Feuz ansieht, er zählt zu den kompletten Athleten: WM- und Olympiagold, Abfahrtsweltcup, je drei Mal Streif und Lauberhorn gewonnen ... da tritt in Kitzbühel ein ganz Großer von der Bühne ab. Und er könnte mit zwei Siegen meinen Rekord auch noch einstellen.

Momentan hat die Schweiz ja Österreich wieder deutlich überholt. Wir haben riesige Nachwuchsprobleme, haben Sie eine Erklärung, warum sich das so gedreht hat?

Jein. Wir haben das Nachwuchsproblem vielleicht schon hinter uns. Und wir haben aus den Fehlern gelernt. Aber das Ganze ist sehr fragil: Wir haben halt mit Odermatt einen Überflieger mit 1.200 Weltcuppunkten. Wenn ein, zwei, drei Top-Athleten ausfallen, was hoffentlich nicht passiert, sieht die Sache anders aus. Bei Österreich fehlt jetzt natürlich Matthias Mayer. Platz eins im Nationencup hängt aber immer von gesunden Athleten ab.

Wo sehen Sie die Zukunft des alpinen Rennsports? Es gibt ja Überlegungen für Rennen in der Wüste oder in der Halle. Zudem wird man wohl künftig mehr schneearme Winter wie heuer haben.

Den Skisport revolutionieren wird schwierig. Weil, warum sollte man etwas auf den Kopf stellen, das sehr gut funktioniert? Er lebt ja von seiner Geschichte und den Legenden. Parallelrennen in den Städten kann man zum Beispiel schon veranstalten, um mehr Menschen in die Berge zu locken - aber sie sollten Showrennen ohne Weltcuppunkte sein.

Zum Schluss gestatten Sie mir folgende Frage: Welche Reporterfrage hat Sie im Zielraum immer am meisten genervt?

(lacht) Wenn es nicht schnell genug lief und man bekam die Frage: "Warum sind Sie so langsam?" Ja, wenn man das wüsste, wäre man ja nicht so langsam gewesen!

Aber Sie wirkten immer recht ruhig und entspannt bei Interviews.

In der zweiten Karrierehälfte und dann nach der Karriere ist mir erst klar geworden, wie wichtig die Berichterstattung ist und dass die Journalisten auch immer neue Geschichten bringen müssen. Aber wenn man aus Enttäuschung emotional geladen ist, gibt man als Junger nicht immer eine schlaue Antwort - mit Erfahrung ist dann alles einfacher.