Beaver Creek. Es war einmal ein kleiner Bub, er wuchs auf in New Hampshire, in einer kleinen Waldhütte ohne Elektrizität und fließend Wasser, wurde von seinen Hippie-Eltern zunächst zu Hause unterrichtet und verbrachte ansonsten die meiste Zeit des Tages draußen. Er habe von klein auf "so viel Zeit im Freien verbracht wie ein Durchschnittsamerikaner vor 300 Jahren", sollte der Bub später sagen, als er erwachsen und nicht mehr ohne Strom, sondern im Scheinwerferlicht dastand, und diese Beweglichkeit und Koordination erklären sollte, die man davor im Skizirkus noch nicht gesehen hatte. Ja, man kennt die Geschichten über Bode Miller. Seit er vor mehr als eineinhalb Jahrzehnten im Weltcup aufgetaucht ist, wurde beinahe alles über ihn erzählt und geschrieben, viele Wahrheiten und auch Halbwahrheiten, bei denen er sich selbst nie die Mühe gemacht hat, sie richtig zu stellen. Miller verstand sich eben immer schon irgendwie als Outlaw, als Rebell - und auch wieder nicht.

Die letzten Szenen der Karriere Bode Millers? US-Alpinchef Patrick Riml hofft, nicht: "Es kann sein, dass es ihn jetzt so anzipft, dass er erst recht weiter fährt." - © ap/Shinichiro Tanaka
Die letzten Szenen der Karriere Bode Millers? US-Alpinchef Patrick Riml hofft, nicht: "Es kann sein, dass es ihn jetzt so anzipft, dass er erst recht weiter fährt." - © ap/Shinichiro Tanaka

Denn so viel man auch über den 37-Jährigen schon gehört hat, kaum einer im Skizirkus kennt ihn wirklich, die Öffentlichkeit noch weniger. Freilich, einiges in seiner Vita ist verbürgt, in Zahlen gegossen durch die Ergebnislisten im Skisport. Miller, der als einer der Ersten in Nachwuchsrennen schon mit Carving-Skiern unterwegs war und auch im Weltcup als einer der Pioniere auf diesem Gebiet galt, hat als einer von nur fünf Skifahrern Weltcuprennen in allen Disziplinen gewonnen, ist zweifacher Gesamtweltcupsieger, war Weltmeister in vier verschiedenen Disziplinen und hat sechs Olympia-Medaillen, davon eine Goldene von 2010 in der Super-Kombination. Und wie widersprüchlich die Persönlichkeit Millers ist, zeigte sich nicht zuletzt damals, in Vancouver: Da war er als krasser Außenseiter in die Rennen gegangen, weil er in der Saison davor fast keine bestritten hatte, dann gewann er einen ganzen Medaillensatz - neben Kombinationsgold auch Silber im Super G und Bronze in der Abfahrt. Und dann erzählte er der Presse freimütig, wie man ihn schon jahrelang nicht gesehen hatte, dass er ja eigentlich schon mit dem Sport aufgehört hatte. "Aber ich bin aus einem Grund zurückgekehrt: den Olympischen Spielen." Den Spielen 2010, wohlgemerkt.

Und spätestens seit damals wird beinahe monatlich über einen Rücktritt Millers spekuliert; eigentlich schon seit viel früher, nämlich seit den Winterspielen 2006, als er - wie von sich selbst angekündigt - im Olympiaort Sestriere mehr in den Bars denn auf der Piste anzutreffen war, die Nacht zum Tag, seine Lustlosigkeit publik und sich selbst zum Gespött der US-Presse machte. Als "größte Pleite der Olympiageschichte" betitelte ihn damals der "San Francisco Chronicle", die Karriere schien vorbei.

Die Physik schlägt zurück

Doch während viele ihn abschrieben, fuhr Miller immer weiter, mal mit seinem eigenen Team, dann wieder mit dem Verband, mal mehr erfolgreich, mal weniger, mal mit privat begründeten, mal mit verletzungsbedingten Pausen. Zuletzt waren es anhaltende Rückenbeschwerden samt Bandscheibenoperation, die ihn die gesamte Saison kein Weltcup-Rennen hatten bestreiten lassen.

Doch wieder kehrte Miller zurück, einmal sollte es noch gehen, die Heim-WM in Beaver Creek, wo er sich mit Fans und Medien mittlerweile so gut wie möglich ausgesöhnt hatte, sollte der krönende Abschluss sein. Dabei ging es ihm längst nicht mehr nur um Siege. Natürlich wollte er Medaillen - in Sotschi 2014 holte er noch Super-G-Bronze -, doch mehr noch ging es ihm um den perfekten Schwung, um die Grenzen der Physik. Auch an diesem Donnerstag.

Dann aber schlug diese Physik, die er so oft ausgetrickst hatte, zurück: Nach einem bis dahin famosen und bode-esken Rennen, in dem er mit verrenkten Gelenken durch die Tore geschlurft und trotzdem schnell gewesen war, blieb er mit dem Arm an einer Stange hängen und wurde ausgehebelt, sodass nicht einmal mehr er die Körperkontrolle behalten konnte. Zwar zog er sich bei seinem wilden Sturz keine Brüche oder Bänderrisse zu, mit der Kante eines Skis schnitt er sich aber eine tiefe Wunde samt Muskelsehnendurchtrennung in die Wade. Eine Operation, eine drei- bis viermonatige Pause und somit das Saisonende sind die Folge.

US-Team hofft

Doch bedeutet das auch das Ende der Karriere? Da wäre es wieder, das Rätsel Bode Miller. Zwar twitterte er unmittelbar nach der Operation aus dem Krankenhaus und schrieb davon, Glück gehabt zu haben, "weil es weit schlimmer hätte ausgehen können". Doch die Antwort auf die ungestellte Frage nach einem etwaigen Rücktritt ließ er offen. Nicht einmal US-Alpinchef Patrick Riml traute sich darüber eine seriöse Einschätzung zu. "Ich hoffe, er findet die Motivation, noch einmal Gas zu geben", meint der Tiroler. "Der Skisport braucht Typen wie ihn." Doch ob Miller, 37 Jahre alt, verheiratet und mehrfacher Vater, den Tanz am Limit noch braucht? Olympia in Südkorea ist noch weit weg, doch Riml sieht andere mögliche Ziele: "Kitzbühel hat er noch nicht gewonnen. Er hätte sich eine Gondel mit seinem Namen verdient", sagt er - und hofft auf den Jetzt-erst-recht-Reflex: "Es kann sein, dass es ihn jetzt so anzipft, dass er genau deswegen weitermacht. Bei Bode weiß man nie."