"Litauen! Wie die Gesundheit bist du, mein Vaterland! Wer dich noch nie verloren, der hat dich nicht erkannt."

Es ist die Anrufung eines Emigranten, der sich aus der Ferne nach seiner Heimat sehnt, der von einem Ort zum anderen ziehen musste und nicht einmal auf seinem Kontinent sterben konnte. Die Verse sind veraltet; sie stammen noch aus einer Zeit, in der Europa auf Königtümer aufgeteilt war, an denen aber schon Völker mit einem neu erwachten Nationalbewusstsein rüttelten. Eines der Häuser war bereits untergegangen, weil es unter anderen aufgeteilt worden war: das polnisch-litauische Reich. In dieser Gegend wurde der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz geboren, fern von dort schrieb er vor 200 Jahren das Epos "Pan Tadeusz".

Doch an Schulen in Polen ist das Werk auch heute noch Pflichtlektüre, und die Geschichte ihres Landes, die Kinder zu hören bekommen, ist noch immer geprägt vom Kampf um die Heimat, vom Leid und von der Zerrissenheit. Das ist wohl auch einer der Gründe, warum noch so mancher Erwachsene glaubt, sein Vaterland sei bedroht: in Gefahr, von Russland übervorteilt und von der EU schlecht behandelt zu werden. Es ist nicht einmal eine rechtsextreme Partei, die diese Sorgen schürt, wenn auch eine konservative, die größte Oppositionspartei.
Auf der anderen Seite lässt sich gerade in Osteuropa mehr Begeisterung für die Europäische Union finden denn unter etlichen älteren westlichen Mitgliedern. Zum einen ist das Vertrauen in die EU-Institutionen teils stärker als in die eigenen Strukturen, zum anderen sind die Veränderungen greifbarer, die das vergangene Vierteljahrhundert gebracht hat.
Reisefreiheit, Meinungs- und Versammlungsfreiheit hat es davor nur für einen Teil des Kontinents gegeben. Und auch wenn es scheinen mag, dass diese Erzählungen von damals die Jugendlichen von heute nicht interessieren, so sind es dennoch gerade diese Errungenschaften, von denen die Menschen profitieren: die Möglichkeit, ein Erasmus-Semester in einem anderen Land zu absolvieren oder in sozialen Medien unzensiert die eigene Meinung zu verbreiten.
Doch für Länder wie Polen markierte der Beitritt zur EU - wie auch zur Nato - keineswegs das Ende des Übergangs vom Sozialismus samt sowjetischer Einflussnahme über Auflehnung und Neuaufbau hin zur Aufnahme in eine Gemeinschaft, der sich die Osteuropäer sowieso zugehörig fühlten. Manche Staaten wussten die Mitgliedschaft besser zu nutzen als andere, indem sie etwa die von der EU zur Verfügung gestellten Mittel ausschöpften und sie in die Verbesserung ihrer Infrastruktur und damit in die Stärkung ihrer Wirtschaft fließen ließen. So war es ausgerechnet ein osteuropäisches Land, das 2009, als die Rezession in der gesamten EU spürbar wurde, als einziger Mitgliedstaat ein Wirtschaftswachstum aufweisen konnte: Polen.
Im Mai 2014 wird es zehn Jahre her sein, dass in einer großen Erweiterungsrunde zehn ost- und südeuropäische Länder in die Europäische Union aufgenommen wurden. In diesem Monat wird auch ein neues EU-Parlament gewählt. Die Hoffnungen so mancher richteten sich dabei auf neuen Schwung, den die Osteuropäer einbringen könnten. "Woher sollte der auch sonst kommen?", fragten einige. Die südeuropäischen Länder sind mit ihren wirtschaftlichen Schwierigkeiten beschäftigt, Frankreich und Deutschland arbeiten nicht mehr mit derselben Innigkeit zusammen wie einst, Großbritannien übt sich zusehends in Isolation.
Als daher die Spekulationen anfingen, wen die derzeit größte Fraktion im EU-Abgeordnetenhaus, die Europäische Volkspartei, an die Spitze ihrer Kandidatenliste stellen könnte, war schon bald vom polnischen Premier Donald Tusk die Rede. Der markante Spitzenkandidat der Sozialdemokraten, der deutsche Parlamentspräsident Martin Schulz, sollte ein gewichtiges Gegenüber bekommen.
Doch Tusk winkte ab: Er habe in Polen genug Herausforderungen. Vielleicht dachte er gleichzeitig daran, dass er in Warschau die europäische Politik zumindest im gleichen Ausmaß mitbestimmen kann wie in Brüssel. Denn der Präsident der EU-Kommission - und auf diesen Posten hätte sich Tusk durchaus Chancen ausrechnen können - füllt zwar ein mächtiges Amt aus, da die Brüsseler Behörde jene ist, die Gesetzesentwürfe ausarbeitet. Das EU-Parlament, das in vielen Fällen Mitspracherecht hat, kann dann seine Änderungsvorschläge einbringen. Doch ist es der Rat, also die Versammlung der jeweiligen EU-Minister bis hin zu den Staats- und Regierungschefs, der die Vorhaben gelingen oder scheitern lässt. Und dieses Gremium setzt sich nun einmal aus Politikern zusammen, die in ihren jeweiligen Ländern gewählt werden.
Das ist auch eine der Schwierigkeiten für die EU-Mandatare. Sie betonen zwar gern, der einzigen direkt gewählten EU-Institution anzugehören, doch beruht die Gesetzgebung in der EU zu einem großen Teil auf Kompromissen zwischen den Regierungen der einzelnen Staaten, die sich vor allem nationalen Interessen verpflichtet fühlen. Trotzdem müssen die EU-Parlamentarier den Menschen in der Heimat das Gefühl vermitteln, dass auch der Urnengang bei der EU-Wahl seine Bedeutung hat.