Der Zorn, altgriechisch ménos, steht am Anfang der europäischen Literaturgeschichte. "Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus", so lautet die erste Zeile der Ilias. Zugegeben: Vom ersten und vielleicht größten Epos des Westens bis zur niederösterreichischen Landtagswahl vom vergangenen Sonntag ist es ein gewagter Sprung. Die Klammer findet sich im Zorn, der sowohl beim Debakel für ÖVP wie SPÖ als auch beim Höhenflug der FPÖ die Finger wesentlich mit im Spiel hatte.
Da ist, wie der "Kurier" einen ungenannten blauen Funktionär zitierte, ein "heiliger Zorn", den die FPÖ gegen die ÖVP im Allgemeinen und Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner hegt. Der Mann spielt dabei auf das im Wahlkampf publik gewordene Dossier zum ORF Niederösterreich an. Dessen Direktor wird vorgeworfen, als Chefredakteur einen gepflegten Doppelpass mit der allmächtigen Landes-VP gespielt zu haben, als FPÖ-Obmann Udo Landbauer 2018 in der Liederbuch-Affäre unter Druck geriet und alle politischen Funktionen zurücklegen musste.
Von allen betrogen: die Blauen und ihre Wähler
Ähnliche Gefühle werden Herbert Kickl, dem Strategen, gewieften Taktiker und längst unumstrittenen Parteiobmann der FPÖ, gegenüber der ÖVP nachgesagt. Nach Kickls Lesart hat die türkise ÖVP unter Sebastian Kurz das Ibiza-Video, in dem sich Heinz-Christian Strache und Johann Gudenus um Kopf und Kragen redeten, benutzt, um Türkis-Blau zu sprengen. Den Umstand, dass ihm als Innenminister die Entlassung durch den Bundespräsidenten (und auf Vorschlag von Kurz) widerfuhr, trägt der nunmehrige FPÖ-Chef mittlerweile zwar wie ein Ehrenzeichen. Geblieben ist das Gefühl in der freiheitlichen Seele, von der Volkspartei betrogen worden zu sein. Der Zorn über diese Verletzung des eigenen Stolzes ist der FPÖ im Umgang mit allen Türkisen und Schwarzen überdeutlich anzumerken.
Zum "heiligen Zorn" der Blauen selbst kommen die Gefühle all jener, die am Wahltag in Niederösterreich aus Wut ihr Kreuz bei dieser Partei machten. Als "Zornsammelstelle" hat "profil" am Höhepunkt der Corona-Frustration die FPÖ einmal bezeichnet. Dieser Gefühlszustand der Menschen wird dabei geschickt am Köcheln gehalten, um bei Wahlen davon profitieren zu können. Dieser gut geölten Ökonomie der Emotionen durch die FPÖ hat die Konkurrenz nichts oder jedenfalls nichts vergleichbar Effektives entgegenzusetzen.
Für die alten Griechen war der Zorn eine ambivalente Wallung
Welche Folgen der Zorn der FPÖ und viele ihrer Wähler haben wird, bleibt abzuwarten. Die alten Griechen standen dem "ménos" durchaus ambivalent gegenüber. In deren Augen kündigte er Unheil an und brachte dennoch - vielleicht sogar deswegen - Helden hervor, die Superstars ihrer Mythen. Der stolze Achill, den sein Zorn antreibt, ist sicher das berühmteste Beispiel. Den Preis dafür müssen die Trojaner berappen, die auf grausame Weise vom wütenden Helden gemetzelt werden. Aber was für eine Geschichte!
Dass die aktuell grassierende Wut das Zeug hat, aus Kickl einen Helden zu formen, ist eher unwahrscheinlich. Dafür gibt es auch keine Garantie mehr, dass der Zorn weiterhin der verlässliche Vorbote eines nahen Untergangs ist. Dafür ist zumindest aufseiten professionell organisierter Parteien zu viel Strategie und Kalkül mit im Spiel. Was wir erleben, ist eine rationale Nutzbarmachung des Zorns für biedere politische Zwecke. Die unberechenbare Variable liegt in der ungeheuren Kraft, die für alle Zeit in Gefühlen wie Hass und Wut steckt.
Als Peter Sloterdijk 2006 seinen lesenswerten, obgleich etwas lang geratenen Essay "Zorn und Zeit" herausbrachte, wollte er den scheinbar aus der Weltgeschichte verdrängten Zorn rehabilitieren und in die Gegenwart zurückholen. Sein Wunsch wurde von den Göttern, die die Welt womöglich doch lenken, schneller erhört, als es sich Sloterdijk wohl selbst vorgestellt hat. Schon 2017 verfasste der indische Essayist Pankaj Mishra mit "Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart" eine erste Bilanz der Rückkehr dieser heiligen Wut als Motor gesellschaftlicher Entwicklungen.
Der moderne Staat, der sich in Europa doch eigentlich als Garant umfassender Sicherheit und Freiheit für seine Bürger und Bürgerinnen versteht und als solcher von einer breiten Mehrheit akzeptiert wird, hat während der Corona-Pandemie ein anderes, in Europa fast vergessenes Gesicht gezeigt: das des größten Feindes individueller Freiheit. Das Bild vom Staat als großem Unterdrücker halten in den USA Libertäre und rechtsnationalistische Kreise am Leben, von links nicken die Jünger Edward Snowdens oder Julian Assanges, die gegen staatliche Überwachung zu Felde ziehen, eifrig mit dem Kopf. Und auch populistische Progressive - der greise französische Widerstandskämpfer Stéphane Hessel traf 2010 mit seinem Essay "Empört Euch" den Nerv einer Stimmung - versuchen, den Zorn der Verlierer auf ihre Mühlen zu lenken. Nur eine Massenbewegung mit politischer Relevanz ist daraus bis heute nicht geworden. Offen ist noch, ob den radikalen Strömungen der Klimaschutzbewegung der Gegenbeweis gelingt.
Der Staat: vom Beschützer zum Gefährder
In Österreich dominiert nach 1945 der Staat in seiner Rolle als umfassender Beschützer und Problemlöser. Für kräftige Risse in diesem Konsens sorgen die von vielen als unverzeihliche Zumutung empfundenen Zwangsmaßnahmen zum Schutz vor Sars-CoV-2. Kaum ein Thema emotionalisiert so wie der Kampf gegen die Pandemie: Allen voran die Impfpflicht, der Lockdown für Ungeimpfte und all die Zugangsbeschränkungen für die Teilhabe am öffentlichen Leben treiben vielen bis heute die Zornesröte ins Gesicht. Und es ist die FPÖ, die geschmeidig und mit scharfer Rhetorik auf dieser Wut-Welle surft. Die Früchte des Zorns, das haben die Landtagswahlen in Niederösterreich gezeigt, sie fallen allesamt in den Schoß der Freiheitlichen.
Trotzdem taugt Österreich, wenigstens dieses Mal, nicht erneut als kleine Bühne, auf der die große Welt ihre Probe hält. Die Wut der Corona-Empörten steht in keinem Verhältnis zum so verblendeten wie blutigen Hass, der all die militanten Eiferer, seien dies nun islamistische Extremisten oder rechtsradikale Terroristen, rund um den Globus antreibt. Gelindere Gefühle (drohender) Entwurzelung und Entfremdung sind dennoch in der Lage, sich in westlichen Demokratien zu mehrheitsfähigen Koalitionen zu vereinen. In den USA ist dies dank eines günstigen Wahlrechts 2016 Donald Trump gelungen. Gegen solche Entwicklungen ist kein Staat immun, doch im Vergleich zu den USA wirkt Österreich nach wie vor wie ein gemütlicher Heuriger, wo zwar heftig gestritten, aber nichts so heiß gegessen wird, wie es zuvor gekocht wurde.
Ob dies aber auch so bleibt, wird nicht zuletzt davon abhängen, wohin sich die FPÖ entwickelt. Grundsätzlich schadet "Kritik am System" keinem System; und die gezielte Ansprache zorniger Bürgerinnen und Bürger kann diesen ein Angebot zur Mäßigung bieten - oder deren Wut weiter hegen und pflegen. Und dann sind da noch all die anderen Parteien, deren Aufgabe es eigentlich wäre, die Gesellschaft zusammenzuhalten und Lösungen für drängende Probleme wie Sorgen zu finden. Politik vermag dem Zorn Grenzen zu setzen. Wenn sie denn will und kann. Das Aufkommen von Zorn kann nämlich auch als Warnhinweis gelesen werden.