Eine schwere Niederlage des freiheitlichen Lagers war schon vor der Wien-Wahl prognostiziert worden. Der Wahlabend wurde dann aber noch schwärzer, als viele Funktionäre befürchtet hatten: Absturz von fast 31 auf rund acht Prozent für die FPÖ, das Team Strache scheiterte laut den noch nicht endgültigen Zahlen deutlich an der Fünf-Prozent-Hürde für den Landtag. Dieser "enorme Verlust an Vertrauen" schmerze "unendlich", schrieb FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl nach dem Debakel auf Facebook. "Nicht andere Parteien haben uns diesmal besiegt. Die FPÖ selbst hat dieses Geschäft für unsere Gegner erledigt."
Die meisten der einstigen freiheitlichen Stimmen wanderten ins Lager der Nichtwähler (mehr als 100.000). Ein ähnliches Bild hatte sich schon bei vergangenen Krisen des Dritten Lagers gezeigt: Auch nach der Parteispaltung in Knittelfeld 2002 war ein beträchtlicher Teil einstiger Wähler gar nicht mehr zur Wahl gegangen. In den Jahren darauf konnte Heinz-Christian Strache, der die am Boden liegende FPÖ übernahm, ihren Stimmenanteil aber wieder sukzessive ausbauen - und führte die Partei bei der Nationalratswahl 2017 zu knapp 27 Prozent.
Das dominierende Motiv, bei der Wien-Wahl nicht die FPÖ zu wählen, lag laut einer Umfrage des Meinungsforschers Peter Hajek mit 2.000 Befragten in den FPÖ-Skandalen der jüngeren Vergangenheit. 19 Prozent der Befragten gaben an, der FPÖ deshalb nicht mehr ihre Stimme gegeben zu haben. 17 Prozent nannten als Grund, Strache zu unterstützen. Für weitere zehn Prozent war die "schlechte Performance" der Freiheitlichen ausschlaggebend.
Filzmaier: "Prozess von Jahren, wenn nicht Jahrzehnten"
Beim Hauptmotiv FPÖ-Skandale bleibt interessant: Seit Bekanntwerden des Ibiza-Videos gab es auch andere wichtige Wahlgänge. Bei der EU-Wahl unmittelbar nach Veröffentlichung der Video-Sequenzen konnte die FPÖ noch 17 Prozent erringen, bei der Nationalratswahl vor einem Jahr immer noch 16. Warum also nun dieser schwere Absturz bei der Wien-Wahl, bei der FPÖ und Team Strache gemeinsam nur noch auf rund elf Prozent kommen?
"Das hängt natürlich mit dem Konflikt zwischen Strache und der FPÖ zusammen", sagt Hajek zur "Wiener Zeitung". Ohne diese Auseinandersetzung wären die Freiheitlichen "wahrscheinlich bei plus/minus 15 Prozent aufgeschlagen", sagt der Meinungsforscher. Aber sind größere Anteile der Nicht-Wähler künftig wieder für die Partei mobilisierbar? Und ist ein zeitnahes Comeback der Freiheitlichen damit denkbar?
"Ist es", sagt Politologe Peter Filzmaier. "Aber es ist natürlich ein Prozess von Jahren, wenn nicht Jahrzehnten." Zudem brauche es dafür eine Rahmenbedingung: die Monopolstellung der FPÖ als Sammelbecken der Enttäuschten, die sich von "denen da oben" benachteiligt fühlen. Spiele noch eine weitere Partei die Anti-Establishment-Karte, werde es für die FPÖ schwierig, sagt Filzmaier mit Verweis auf das Team Stronach. Das hatte den Freiheitlichen bei der Nationalratswahl 2013 im Dreikampf um Platz eins entscheidende Stimmen weggenommen.
"Anti Establishment"-Erzählung
Die Zielgruppe, die Blau in nächster Zeit am effizientesten ansprechen könne, sei jene der "sogenannten Corona-Verlierer", sagt Filzmaier. Also Menschen, die sich von den wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie und ihrer Bekämpfung überdurchschnittlich benachteiligt fühlten. Diese Gruppe werde von keiner anderen Parlamentspartei abgeholt. Das "Anti-Ausländer"- und Integrationsthema bleibe für die FPÖ ohnehin ein erfolgreiches Meta-Thema - oder auch ein Vehikel für die eigentliche "Anti-Establishment"-Erzählung.
Die Personalfrage dürfte dagegen in nächster Zeit weniger relevant sein. Nicht zuletzt, weil im kommenden Jahr die Landtagswahl in Oberösterreich ansteht, wo die FPÖ von einem Ergebnis von 30 Prozent bei der vergangenen Wahl 2015 ausgeht. Der damalige Wahlgang am 27. September stand unter direktem Eindruck der großen Flucht- und Migrationsbewegungen jenes Sommers, was der FPÖ stark nutzte. Für die anstehende Wahl werden ihr daher schwere Verluste prognostiziert. "Wer immer jetzt die Bundespartei statt Hofer übernehmen könnte, müsste die Oberösterreich-Wahl verantworten", sagt Filzmaier. Bis dorthin dürfte deshalb gelten: Füße stillhalten und keine Personaldiskussionen. Nach dem Wahltag könnten die Karten gegebenenfalls neu gemischt werden - und ein geschwächter Bundesparteiobmann Norbert Hofer womöglich ersetzt. Bis dahin bliebe er wohl ein "Parteivorsitzender auf Abruf", sagt Filzmaier.
"Ein Faktor, der für die Niederlage in Wien entscheidend war, fällt künftig jedenfalls weg", sagt der einstige blaue EU-Abgeordnete Andreas Mölzer. "Nämlich Heinz-Christian Strache." Das Kapital der FPÖ "als fundamental-systemkritische Oppositionspartei" sei die Glaubwürdigkeit in dieser Frage gewesen. "Und die war mit Ibiza natürlich weg", sagt Mölzer. Mit dem Antreten Straches sei die Glaubwürdigkeit immer wieder in Frage gestellt worden, "es wurde immer wieder an die Verfehlungen erinnert". Bei der Wahl in Oberösterreich werde dies nicht mehr der Fall sein.
Mölzer: "Keine Ein-Thema-Partei"
Mölzer warnt gleichzeitig davor, die FPÖ als "Ein-Thema-Partei" zu positionieren. Mit Fokus auf ihre Grundwerte müssten die Freiheitlichen eine "nationalliberale Partei" sein, meint Mölzer. Dazu gehöre neben der Frage der österreichischen Identität auch das Eintreten für bürgerliche Freiheitsrechte - gerade während der Corona-Pandemie ein entscheidendes Thema. "Man muss nur aufpassen, dass man nicht den haarscharfen Kamm zu den Verschwörungstheoretikern überschreitet", sagt Mölzer.
Personell müssten junge Leute für die Zukunft aufgebaut werden. "Die kannst du aber nicht von heute auf morgen aus dem Hut zaubern. Sogar Sebastian Kurz war mehrere Jahre Minister, bevor er seinen eigentlichen Erfolgsweg begonnen hat." Auch wenn jetzt nicht der Zeitpunkt für Personaldiskussionen sei: Längerfristig werde der Partei nicht erspart bleiben, etwas zu verändern. Denn "automatisch erholt sich der Wählerzuspruch nicht", so Mölzer.
Eines stehe fest, die Vulgaritätslinie der FPÖ wurde abgewählt, sagte Politikberater Christoph Pöchinger im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Bei der Wien-Wahl habe man gesehen, was die Konzentration auf den absoluten Kernwähler bringe: nämlich einen Verlust von 23 Prozentpunkten. "Die Lehre, die die FPÖ daraus ziehen wird - und das wird Parteiobmann Norbert Hofer ganz gut machen -, wird sein, die richtige Linie für die Zukunft zu entwickeln." Seiner Meinung nach sollte das eine Überschreitung der Trennlinie zur ÖVP sein. Es müsse gelingen, diese Mitte-rechts-Wähler, die die ÖVP jetzt für sich beanspruche, als neue Kernwählerschaft der FPÖ zu gewinnen. "Wenn man das vernachlässigt, weil man sich auf die Vulgarität zurücklehnt, wird man dauerhaft eine Zehn-Prozent-Partei werden", gibt Pöchinger zu bedenken.
"Fallbeil" für Strache
Die FPÖ habe zwei Möglichkeiten: Entweder weiter nach rechts zu gehen oder die Trennlinie zur ÖVP zu überschreiten, so wie die ÖVP die Trennlinie zur FPÖ überschritten und sich dort Wähler geholt habe. Die Themen Industriepolitik oder Gesundheit nannte Pöchinger stellvertretend für andere. "Für die FPÖ muss gelten: Wenn die anderen rechter werden, müssen wir bürgerlicher werden." Als Beispiel führte er den oberösterreichischen FPÖ-Landesparteichef und Landeshauptmann-Stellvertreter Manfred Haimbuchner an.
Auch der FPÖ-nahe Politik-Strategieberater Heimo Lepuschitz rät den Blauen jetzt, sich nicht weiter zu verengen oder die Ideologiekeule zu schwingen, sondern die Lebensrealitäten der Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Ohne auf die Corona-Leugner-Schiene zu setzen, sollte die FPÖ dennoch die Frage der sozialen Kosten oder der Bildung durch überzogene Maßnahmen thematisieren. Klar sei: "Die FPÖ hat im urbanen Bereich ein Problem. Da wird man sich etwas überlegen müssen." Aber auch Lepuschitz rät von einer ideologischen Verengung ab.
Den Wien-Wahlkampf selbst hält Lepuschitz dennoch für richtig, schließlich habe sich Dominik Nepp gegen den früheren Parteichef Strache positionieren müssen. "Das Kapitel Strache ist nun erledigt. Alle anderen Landesorganisationen können sich dafür bei den Wienern bedanken." Die FPÖ habe sich einen blauen Fleck dabei geholt, der vergehe. Aber für Strache sei die Wien-Wahl das Fallbeil gewesen.