Das Thema Ausländerwahlrecht kommt bei fast jeder Wahl auf. Aber nur ein bisschen. Eine wirklich breite Debatte findet in Österreich darüber nicht statt. Dabei ist das Ausländerwahlrecht längst Realität. Aber eben auch nur ein bisschen. So dürfen EU-Bürger auf kommunaler Ebene wählen, in Wien als Bundesland betrifft das jedoch nur die Bezirksvertretungen. Der zweite Fall ist die EU-Wahl. Bei dieser dürfen EU-Ausländer, die hier leben, die österreichischen Parteien wählen. Sie müssen sich dafür in die Wählerevidenz eintragen lassen.

Diesmal versuchten die Neos, das Thema etwas weiter in die politische Debatte zu ziehen. Anfang September forderte EU-Abgeordnete Claudia Gamon die Ausweitung des Wahlrechts von EU-Bürgern auf die nationale Ebene. Die ÖVP sprach sofort von "linken Träumereien", und auch die FPÖ lehnte das Ansinnen strikt ab. Die Diskussion war damit gegessen.
Bis zum Wochenende. Denn da erklärte Max Lercher, ehemaliger Bundesgeschäftsführer der SPÖ und nun Spitzenkandidat in der Obersteiermark, im "Standard"-Chat, dass "Menschen, die eine gewisse Dauer in Österreich leben, zumindest auf kommunaler Ebene mitbestimmen" sollen. Für ÖVP und FPÖ naturgemäß ein Elfmeter. Herbert Kickl trat für die FPÖ via Presseaussendung an: "Verrückte SPÖ-Pläne", "linke Einwanderungslobby". Und ÖVP-Generalsekretär Karl Nehammer wiederholte, was er schon über die Neos schrieb: "Linke Träumereien". Doch auch von Parteichefin Pamela Rendi-Wagner kam keine Unterstützung. Damit auch hier: Diskussion beendet.
Doch warum eigentlich? "Die Geschichte des Wahlrechts war immer auch ein Kampf um dessen Ausweitung", sagt Gerd Valchars, Politikwissenschafter an der Uni Wien. Er hat sich in mehreren Publikationen mit dem Thema Wahlrecht und Migration auseinandergesetzt.
Egal, wohin man blickt, ob nach Österreich, nach Frankreich oder in die Vereinigten Staaten, die Entwicklung war überall ähnlich. Es begann mit einem elitären Kreis an Wahlberechtigten, in Österreich hieß das etwa im Jahr 1848, dass Frauen, Arbeiter und Dienstleute von der Wahl ausgeschlossen waren. Das Wahlrecht war damals aber ohnehin nur auf Kurzbesuch in Österreich, Kaiser Franz Joseph ließ das Parlament bald auflösen und regierte wieder absolut.
Ab 1873 gab es dann erstmals direkte Wahlen, diesmal in Form des Zensuswahlrechts. Das Wahlrecht war an die Steuerleistung gekoppelt. Frauen durften grundsätzlich nicht wählen, mit einer Ausnahme: Großgrundbesitzerinnen. Derartige Einschränkungen nach Geschlecht, Klasse und Einkommen wären mit dem heute gängigen Demokratieverständnis nicht vereinbar. Es ist also nur logisch, dass sich während der steten Weiterentwicklung der demokratischen Gesellschaft auch das Wahlrecht peu à peu änderte. Und die Wahlrechtsreformen kannten dabei nur eine Richtung: die Ausweitung.
In der Zweiten Republik hieß das zum einen eine schrittweise Absenkung des Alters, zum anderen wurde die Möglichkeit für Auslandsösterreicher geschaffen, an Wahlen in Österreich teilzunehmen. All diese Reformen wurden von einer breiten Mehrheit im Parlament getragen, auch die bisher letzte Reform im Jahr 2007, die von allen Parteien bis auf die FPÖ unterstützt wurde.
Alle Parteien für Absenkung
des Wahlalters auf 16 Jahre
Damals wurde das Wahlalter von 18 auf 16 Jahre herabgesetzt (im 19. Jahrhundert lag es bei 24 Jahren), zudem wurde die Briefwahl ermöglicht. Letztere war der Grund, warum die Freiheitlichen damals nicht mitgingen. Die FPÖ war zwar ebenfalls dafür, dass 16-Jährige wählen dürfen, sie sah allerdings in der Briefwahl das Prinzip der geheimen Wahl umgangen. Das tut sie bis heute, und die FPÖ ist mit dieser Ansicht keineswegs alleine. Doch offenbar hält die Mehrheit es für demokratiepolitisch wünschenswert, weil dadurch mehr Personen von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen können. Auch wenn der Preis dafür hoch ist, nämlich ein praktisch nicht zu kontrollierender Missbrauch des Prinzips der geheimen Wahl.
Bei der Nationalratswahl 2017 wurden fast 800.000 Wahlkarten abgegeben. Allerdings ist davon auszugehen, dass viele davon nur aus Bequemlichkeit per Brief wählten.
Wenn es nun weitgehend Konsens ist, möglichst viele Personen in das Wahlrecht zu inkludieren; und es auch als Notwendigkeit gesehen wird, den Menschen nicht nur das Recht, sondern auch die tatsächliche Möglichkeit zu bieten, ihr Wahlrecht in Anspruch nehmen zu können, indem etwa "fliegende Wahlkommissionen" Menschen mit Einschränkungen und Pflegeheime besuchen, dann ist die Frage jedenfalls gerechtfertigt, wie es demokratiepolitisch zu rechtfertigen ist, wenn ein immer größer werdender Teil der Bevölkerung von Mitbestimmung ausgeschlossen ist.
Rund 1,4 Millionen Menschen, die in Österreich leben, sind ausländische Staatsbürger, mehr als die Hälfte davon verfügt über einen EU-Pass. Darunter sind natürlich auch Kinder. Zudem werden in der Bevölkerungsstatistik alle Personen gezählt, die zu einem bestimmten Stichtag in Österreich gemeldet sind. Viele studieren hier aber nur kurz oder arbeiten ein paar Monate und ziehen bald wieder nach Hause. Doch es gibt auch viele Menschen, die hier seit Jahren und Jahrzehnten leben und nicht mitbestimmen dürfen. Oder die sogar in Österreich geboren wurden. In Wien liegt der Anteil von nicht-wahlberechtigten Personen über 16 Jahren bei mehr als 30 Prozent. Ist es demokratiepolitisch befriedigend, wenn ein Drittel der Bevölkerung nicht wählen darf? Noch dazu, wo das Wahlrecht mittlerweile ein Menschenrecht ist?
Auch hier ist der Blick in die Geschichte sinnvoll. "Das Wahlrecht wird als Bürgerrecht verstanden", sagt die Historikerin Birgitta Bader-Zaar. Es unterscheidet sich in diesem Punkt von anderen Grundrechten. In Österreich geht das Recht der Republik seit 1920 bekanntlich "vom Volk aus", und dieses ist eben mit der Staatsbürgerschaft definiert, wie Walter Obwexer, Völkerrechtler an der Universität Innsbruck, erklärt. Eine Abkehr von diesem Prinzip wäre jedenfalls ein großer Bruch, und es ist daher nachvollziehbar, warum ein Vorschlag wie jener der Neos und von Max Lercher, und zwar auch abseits von wahlstrategischen Überlegungen, zu Ablehnung führt. Auf der anderen Seite: Das Prinzip ist eigentlich längst durchbrochen.