Wien. Während die traditionellen Großparteien seit Jahren in einer strukturellen Krise stecken, erstarken die politischen Ränder. Anlässlich der kommenden Nationalratswahl widmet die "Wiener Zeitung" dieser Entwicklung eine Interviewserie mit renommierten Experten. Bisher erschienen: der Soziologe Colin Crouch zur Krise der Sozialdemokratie ("Wiener Zeitung" vom 3./4. August), Tory-Vordenker Philip Blond über den Irrweg der Konservativen (10./11. August), Populismus-Forscher Florian Hartleb (28. August) zum Erfolg der Rechtspopulisten. Im Folgenden analysiert der Philosoph Rudolf Burger die Entwicklung der Grünen, die zuletzt eine Serie teils beeindruckender Wahlerfolge eingefahren haben. Mittlerweile tragen die Grünen in mehr Ländern Regierungsverantwortung als die SPÖ.

"Wiener Zeitung": Die Grünen symbolisieren derzeit die Hoffnung auf eine moralisch bessere Politik. Teilen Sie diese Hoffnung?
Rudolf Burger: Was ich begrüße, ist, dass es die Grünen in den späten 1970ern und frühen 1980ern waren, die mit Ökologie und Umweltschutz ein radikal neues Thema in die Politik eingebracht haben. Eine solche thematische Innovation ist seither keiner anderen Bewegung und Partei gelungen. Was ihre Art von Politik angeht, so sehe ich die Grünen als eine im Kern rousseauistische Partei - das macht sie zu einer sehr pädagogisierenden Bewegung. Hier haken meine persönlichen Bedenken ein.
Was stört Sie an den Grünen?
Was meine ich mit rousseauistisch: Die Berufung auf Jean-Jacques Rousseau (französisch-schweizerischer Philosoph und Naturforscher, 1712-1778; Anm.) prägt das Natur- und das Demokratieverständnis der Grünen. Rousseau war der Erfinder des modernen demokratischen Gedankens, allerdings in einer sehr unmittelbaren Form als direkte Demokratie. Mit der repräsentativen Demokratie, mit dem Parlamentarismus hatte Rousseau nichts am Hut. In ihrem Politikverständnis stehen die Grünen in dieser Tradition: pädagogisierend und radikal direktdemokratisch. Nur wird oft übersehen, dass Liberalität und Demokratismus historisch nicht synonyme, sondern gegensätzliche Begriffe sind. So gesehen sind die Grünen auch eine anti-liberale Partei.
Einspruch: Von Rousseau stammt auch eine neue Definition für das Wir, indem er die Nation als Willensgemeinschaft definierte und so die Bedeutung von Abstammung, Sprache oder Kultur relativierte. Im Hinblick auf Globalisierung und EU-Integration ein hochaktueller Gedanke, den sich die Grünen als erste Partei angeeignet haben. So gesehen sind sie auch liberal.
Nein, weil Rousseau radikal demokratisch ohne jede Spur von Liberalität denkt, fordert er eine weitgehende Homogenität des Demos. Zu Rousseaus Zeit existierte weder eine multikulturelle Gesellschaft noch hätte er sie begrüßt, weil eine solche heterogen ist. Rousseaus Denken konzentrierte sich auf sehr kleinräumige Staatswesen, konkret auf Genf und Korsika. Aus all dem folgte ein Affekt gegen liberale Ideen. Es ist kein Zufall, dass "neoliberal" eines der "grünen" Schimpfwörter unserer Zeit ist. Damit ist zwar vor allem die Deregulierung der Finanzmärkte gemeint, es greift aber tiefer, nämlich bis hin zur Mikro-Normierung des Alltags.
Und das Eintreten der Grünen für alternative Lebensentwürfe, ist das nicht liberal?
Jede demokratische Bewegung arbeitet durch ihre immanente Dynamik darauf hin, bestehende Normen abzubauen, das liegt in ihrer Natur; dann jedoch errichtet sie umgehend neue rigide Regeln. Beides entspricht der inneren Logik demokratischer Bewegungen. Die Offenheit der Grünen gegenüber sozialem Devianzverhalten schlägt deshalb um in eine Sehnsucht nach neuen Verboten, etwa bei Ernährung, Rauchen und anderem. Wir dürfen das demokratische Element nicht statisch sehen, denn es hat seine eigene Entwicklungslogik, die zu neuen Rigiditäten führen kann. Das einzige wirksame Gegenrezept gegen diesen Kreislauf sind liberale Elemente, weil diese Prinzipien aufrechterhalten, die sich nicht anderweitig legitimieren müssen.
Viele Bürger empfinden dennoch die Ideen der Grünen als Befreiung aus dem als starr empfundenen rot-schwarzen Kammernstaat. Haben Sie eine Erklärung für diese aktuelle Strahlkraft?
In den 90er Jahren gelang es Jörg Haider, fast genau die gleichen Hoffnungen zu wecken, sogar in noch weit höherem Ausmaß. Und auch damals setzte die FPÖ auf eine starke Moralisierung. Diese Hoffnungen teilen sich heute auf die Grünen und so skurrile Erscheinungen wie etwa Frank Stronach auf.
Sie rechnen damit, dass auch die Grünen früher oder später vom hohen moralischen Ross fallen?
Aber ja. Es ist übrigens ein erstaunliches Phänomen, dass Bewegungen nur lange genug behaupten müssen, sie seien moralisch überlegen - irgendwann glauben es die Leute auch. Die Großreligionen sind, obwohl wir ihre Verbrechen in der Geschichte kennen, das erfolgreichste Beispiel für diese Strategie; die politischen Parteien versuchen, es ihnen nachzutun. Heute sind die Grünen die moralisierende Partei par excellence, sie sind die Verwalter der öffentlichen Tugend. Was mich persönlich stört, ist der pädagogisierende und moralisierende Überschuss des Ganzen, die mangelnde Largesse gegenüber Alltagsproblemen, diese Attitüde des Kümmerers.