Wien. "Was das Links-Rechts-Schema betrifft, bin ich der Auffassung, dass diese Einordnungen heute eigentlich nicht mehr zutreffen." Der Satz stammt nicht von einem Wirtschaftsliberalen oder einem Apologeten der These des Endes der großen Ideologien, sondern vom Chef der ältesten und vormals größten linken Partei in Österreich: SPÖ-Chef und Bundeskanzler Christian Kern. Im Wahlduell mit der grünen Spitzenkandidatin Ulrike Lunacek gab sich der Sozialdemokrat alle Mühe, seine Sozialpolitik als eine der "Mitte", seine Migrationspolitik als "verantwortungsvoll", ja "vernünftig" darzustellen. Ob Migranten das "neue Proletariat" seien, fragte Kern jüngst das Magazin "profil". In der Voest fühle sich niemand mehr als "Hackler", antwortete Kern selbst, die Milieus hätten sich extrem aufgefächert. "Die alten Einordnungen haben keine Erklärungskraft mehr."

Auch Peter Pilz scheint verwirrt. Just jener ehemalige Grünen-Politiker, der parteiintern und oft zum Leidwesen seiner ehemaligen Parteifreunde lange die Debatte über eine linkspopulistische Neuausrichtung der Grünen vorantrieb, bezeichnete sich selbst in einem Zeitungsinterview als "Rechtslinken". Beim Thema politischer Islam einen harten Kurs einzuschlagen, das ist und bleibt den Grünen unmöglich: zu groß die Gefahr, die für das Selbstverständnis und den Wahlkampf identitätsstiftende Abgrenzung nach rechts zu verwässern. Für Pilz ein Thema, mit dem er über seine Anhängerschaft hinaus, wohl auch unter FPÖ-Anhängern, durchaus Stimmen holen kann. Auch der Politologe Anton Pelinka spricht von "künstlichen Begriffen", wenn es um die Frage geht, ob die SPÖ tatsächlich mit Heinz-Christian Straches FPÖ eine Koalition eingehen würde. Schließlich habe Franz Vranitzky als "rechter" Sozialdemokrat gegolten, und doch sei er es gewesen, der mit seinem Abgrenzungskurs gegenüber Rechtsaußen der SPÖ Identität gestiftet habe, sagte Pelinka jüngst im Interview mit der "Wiener Zeitung".

Funktioniert die Einteilung in linke und rechte Politik tatsächlich nicht mehr? Was ist geschehen?

Traditionelle vs. neue Linke

Die Geschichte dieser Einteilung ist die Geschichte der traditionellen politischen Kräfte - und ihrer Milieus. Das Scheitern des Realsozialismus vor mehr als 25 Jahren stellte für die westeuropäische politische Linke und ihre Wähler eine massive Zäsur dar. In der Folge waren nicht nur ihre politischen Konzepte - ein aktiver Staat mit keynesianistischer Wirtschaftspolitik und starker Umverteilungsorientierung -, sondern auch der ideologische Überbau, allen voran der marxistisch geprägte Klassenbegriff, diskreditiert. Der französische Soziologe Didier Eribon spricht von einer konzertierten Kampagne, die bereits in den 1980er Jahren mittels Konferenzen und gezielter Medienarbeit begonnen habe, die Grundlagen linken Selbstverständnisses zu beseitigen: Dem Klassenbegriff wurde die - vermeintlich - notwendige Individualisierung gegenübergestellt, sozialdemokratische Politiker sprachen, dem "dritten Weg" des als Modernisierer gefeierten britischen Premiers Tony Blair folgend, lieber von "Flexibilisierung" als von kollektiven Kämpfen um soziale und ökonomische Verteilungsfragen.Zumindest das, was zuvor jahrzehntelang als "links" galt, unterlief in der Folge einem nachhaltigen Wandel. Die transformierte Linke nach 1989 stellte immer stärker partikulare Kämpfe und Identitätspolitik ins Zentrum ihrer Politik, gespeist auch von intellektuellen und wissenschaftlichen Diskursen der "kulturwissenschaftlichen Wende". Als "links" galt zudem vor allem, wer sich gegenüber dem damals stetig stärker werdenden Rechtspopulismus abgrenzte. Wie Eribon in seinem Bestseller "Rückkehr nach Reims" treffend aufzeigt, war jedoch auch in Zeiten, als das proletarische Milieu gefestigt hinter ihren linken Parteien stand, dieses keineswegs antirassistisch oder gegenüber sozialen Randgruppen wie Homosexuellen tolerant eingestellt - im Gegenteil. Das fiel nur im politischen Diskurs der Nachkriegsjahrzehnte nicht ins Gewicht. "Die Arbeiterbewegung blieb zu lange in traditionellen Mustern verhaftet", sagt der deutsche Soziologe Oliver Nachtwey.

Spaltpilz Migration

Genau das begann sich aber ab den frühen 1990er Jahren zu verändern. Das Thema Migration gewann an Bedeutung, und während die Sozialdemokratien sich damit nicht auseinandersetzen wollten oder konnten, gelang es der populistischen und extremen Rechten, es nachhaltig zu besetzen - und durch ihre Wahlerfolge zusehends ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung zu rücken. Ehemals treue SPÖ-Stammwähler wechselten dauerhaft ins Lager der Rechtspopulisten. Spätestens mit dem Sommer 2015 wurden Migration und Flucht zu einem Metathema, das alles zu dominieren scheint - und damit auf eine Linke trifft, die sich selbst eben über Identitätspolitik und Partikularinteressen definiert. Ein SPÖ-Politiker, der sich für eine Koalition mit der FPÖ ausspricht, kann auf dieser Basis nur als "rechts" bezeichnet werden. So gesehen sind es vor allem die Verwerfungen, die das große Thema Migration mit sich bringt, die das alte Schema in Frage stellen.