Niedergebrannte Wohnviertel von Tokio nach dem Angriff mit Feuerbomben am 10. März 1945. - © ap
Niedergebrannte Wohnviertel von Tokio nach dem Angriff mit Feuerbomben am 10. März 1945. - © ap

Tokio. "Ich hasste die Luftschutzgrube in unserem Garten", sagt Haruyo Nihei. Sie war zu niedrig, um aufrecht zu stehen. Grundwasser drang ein, am Boden lagen nur ein paar Decken, über der Öffnung einige Futon-Matten. Einige Nachbarn waren schon da, sie drängten sich aneinander. Draußen wurden der Geräuschpegel und das Geschrei immer lauter. Plötzlich kam ihr Vater angerannt, er zog die damals Achtjährige heraus. "Bleib, oder du wirst verbrennen", rief ihr eine Nachbarin zu. Sie sollte sie nicht mehr lebendig wiedersehen. Nihei folgte ihrem Vater, ihrer Mutter und zwei Geschwistern wie in Trance durch enge Gassen. Aus den Häusern schlugen hohe Flammen, starker Wind fachte sie weiter an. Funken und Trümmer flogen herum. Geschockt sah Nihei, dass etwas auf dem Rücken einer flüchtenden Frau brannte, ohne dass sie es bemerkte - es war ihr Baby. Im Chaos stürzten Kinder zu Boden, wurden niedergetrampelt. Andere fingen Feuer, verwandelten sich in menschliche Fackeln. Irgendwann verlor das Mädchen ihre Familie aus den Augen. "Was danach genau passiert ist, weiß ich nicht mehr", sagt Nihei. Auf einmal habe sie die sengende Hitze und das Gewicht mehrerer Menschen gespürt, die auf ihr lagen. Mehrmals verlor sie das Bewusstsein. Als ihr Vater sie unter dem Haufen an Körpern hervorzog, kam sie wieder zu sich. Sie sah, dass die Menschen zuoberst alle tot waren. Manche brannten immer noch.

40 Prozent minderjährige Opfer


"Ich wurde von den Verstorbenen beschützt", sagt die heute 78-Jährige. Wann immer sie zweifle, müde sei oder aufgeben wolle, fühle sie sich von den Toten dazu gedrängt, weiterzumachen. "Erzähl’ unsere Geschichte", würden sie zu ihr sagen. Genau das tut Haruyo Nihei seit zwölf Jahren. Die Seniorin gehört zu einer Gruppe von Zeitzeugen, die in Schulen und bei Veranstaltungen von jener Nacht vom 9. auf den 10. März 1945 berichten, als es Feuer auf Tokio regnete. Es war der schlimmste Luftangriff des Zweiten Weltkrieges. Damals wurde ein Viertel von Tokio zerstört, mehr als 100.000 Menschen starben. Sie verbrannten, erstickten oder ertranken, als sie in Panik in den Sumida-Fluss sprangen. Unter den Opfern waren doppelt so viele Frauen wie Männer, fast 40 Prozent waren jünger als 19 Jahre.

Entlang des Sumida-Flusses, wo sich heute Touristen den berühmten Tempel Sensoji ansehen, vom höchsten Fernsehturm der Welt, dem Tokyo Sky Tree, auf die Metropole blicken oder Sumo-Turniere besuchen, standen nach den Brandbomben nur noch ein paar Ruinen. Löschversuche scheiterten. Nihei erinnert sich, dass in der eiskalten Nacht vielerorts das Löschwasser eingefroren war. Ohnehin hätte die Feuerwehr gegen die Macht des Angriffs, die von der US-Luftwaffe bewusst auf ein eng mit Holzhäusern bebautes Gebiet gerichtet war, wenig ausrichten können. In dichter Folge flogen B29-Bomber in niedriger Höhe über die Stadt, stundenlang.