
Kairo. Was war das für ein Jubel vor einem Jahr, als Ägyptens neuer Präsident Mohammed Mursi vor den versammelten Massen am Tahrir-Platz sprach und dem Volk seinen Eid schwor. Auf der Bühne angekommen, zog Mursi das Jackett aus, krempelte die Ärmel seines Hemds hoch, so als ob er sagen wollte, packen wir’s an. Demütig huldigte er den "Märtyrern der Revolution", die für den Kampf um die Freiheit gestorben sind, versprach dem Volk zu dienen und ein Präsident für alle Ägypter zu sein. Auch diejenigen, die dem Muslimbruder bei den Präsidentschaftswahlen nicht ihre Stimme gegeben hatten, waren zum Tahrir-Platz gekommen und versprühten Zuversicht.
Jetzt, ein Jahr später, steht Mursi vor den Trümmern seiner Regentschaft. Massen strömen auf die Straßen Kairos und fordern seinen Rücktritt. Einen Tag räumt die wütende Menge dem Muslimbruder noch ein, dann werde zum zivilen Ungehorsam aufgerufen. Die Armee, die das Feld geräumt und die Macht abgegeben hatte, meldet sich mit einem Paukenschlag in die politische Arena zurück: Binnen 48 Stunden müsse der Konflikt gelöst werden, so die Generäle im ägyptischen Fernsehen, die Forderungen des Volkes müssten erfüllt werden. Dies sei die "letzte Chance" für die Staatsführung. Damit setzt die Armee, einst Geburtshelfer der Revolution, dann gefürchteter Gegner des Volkes, Mursi das Messer an die Kehle. Der Vorstoß der Armee wurde von der Menge am Tahrir-Platz mit großem Jubel aufgenommen. Das Militär fordert, dass alle politischen Kräfte und die Jugend des Landes an der Macht beteiligt werden. Eine direkte Machtübernahme schließt Generalstabschef Abdel Fattah al-Sissi aus. Nach dem Ultimatum habe sich Mursi laut seiner Facebook-Seite allerdings mit al-Sissi getroffen, ein undatiertes Foto der beiden mit einem Lächeln begleitete den Eintrag auf der Internet-Plattform.
Der Hass wächst

Der Hass auf den Präsidenten ist jedenfalls groß: Zuversicht und Hoffnung haben sich längst in Wut und Aggression verwandelt. Poster mit Fotos von Mursi und Mitgliedern der Muslimbruderschaft sind mit roten Kreuzen durchgestrichen, ganz so wie vordem Hosni Mubarak und der Vorsitzende des Militärrats Hussein Tantawi. "Mursi hau ab!", schreit die Menge, und: "Wir wollen einen anderen Präsidenten!" Am späten Sonntagnachmittag setzen sich Demonstrationszüge vom Tahrir-Platz in Richtung Präsidentenpalast in Bewegung. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, wollen einige Protestgruppen den Palast stürmen, der allerdings von der Armee hermetisch abgeriegelt wird. Die Soldaten halten sich zurück, sind lediglich auf Objektschutz fixiert. Panzer stehen vor den Regierungsgebäuden, Militärhubschrauber kreisen sowohl über dem Tahrir-Platz als auch über einer Moschee im Bezirk Nasr City, vor der sich die Anhänger Mursis versammelt haben um ihren Präsidenten zu verteidigen. Welches Lager stärker ist, lässt sich schwer ausmachen.