Peking. War da was? "Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen", sagt ein 20-jähriger Student an der Peking-Universität, einer der renommiertesten Hochschulen Chinas. Mit der Frage, was am 4. Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens geschah, kann er nichts anfangen. Mit ihrem Versuch, die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung vor 25 Jahren totzuschweigen, ist Chinas Führung erfolgreich.

"Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert auch die Vergangenheit." Das Gesetz des "Großen Bruders" aus Orwells "1984" setzt die Kommunistische Partei mit fast grenzenlosem Aufwand um. Mahner werden verhaftet, Bücher und Filme verboten, das Internet akribisch zensiert. Dahinter steht die tiefe Angst, dass das Tiananmen-Blutbad noch immer Sprengkraft entfalten könnte.

Kollektives Schweigen

Denn der Vorgang war ungeheuerlich. Nach sieben Wochen friedlicher Studentenproteste für demokratische Reformen lässt die Armee plötzlich Panzer auf den Platz des Himmlischen Friedens rollen und das Feuer eröffnen. Die Stadtverwaltung von Peking sprach nach dem Einsatz von 241 Toten. Menschenrechtsorganisationen gehen von bis zu mehreren tausend Toten aus. Die Ungewissheit über die Zahl der Opfer ist Teil des Verdrängungsprozesses.

In den Wochen vor der Gewalt genossen die Medien ungewohnte Möglichkeiten, frei berichten zu können. Die Freiheit kehrte nicht zurück. Die Unterdrückung der Meinungsfreiheit kennt kaum Grenzen, vor allem, wenn es um den Tiananmen geht. Eines von vielen Beispielen: Der chinesische Schriftsteller Ma Jian, der längst in London lebt, schrieb 2008 ein Buch über das kollektive Schweigen. Sein Roman "Peking Koma" fußt auf den Erinnerungen eines Demonstranten, der angeschossen wurde und gelähmt, stumm und blind blieb. In China durfte das Buch nie erscheinen.

"Shanghai Index" im Netz blockiert

Im Internet suchen Heerscharen von staatlichen Zensoren nach verdächtigen Anspielungen. Als am Jahrestag 2012 die Börse in Shanghai mit 64.89 Punkten im Minus schloss, wurde die Begriffskombination "Shanghai Index" in den sozialen Netzwerken blockiert. Denn im Kurseinbruch wurde das Datum 4.6.1989 entdeckt. Wer auch nur im vagen Zusammenhang mit dem Datum statt "64" "63 + 1" schreibt, droht auf der Schwarzen Liste zu landen.

Das Ergebnis: "Viele jungen Menschen, die keine direkten Erinnerungen haben, müssten schon verdammt neugierig sein, um sich zu informieren", sagt Jeremy Goldkorn, Experte für die chinesischen Medien und das Internet. Nicht nur die Zensoren, auch das staatliche Bildungssystem hätten "vortrefflich gearbeitet, um alle Referenzen zu eliminieren".

Stellungnahmen von Regierung gefordert

Zhang Yianling ist eine der "Tiananmen-Mütter", die Kinder in dem Blutbad verloren. Die Gruppe lässt sich nicht zum Schweigen bringen und verlangt jedes Jahr aufs Neue Stellungnahmen der Staatsführung. "So viele unschuldige Menschen wurden massakriert, es war so eine gewaltige Tragödie", sagt sie. "Die Wahrheit kann nicht ewig mit Lügen verdeckt werden."

Cui Weiping von der Filmakademie in Peking sieht gerade diejenigen in der Pflicht, die sich (noch) erinnern können. Ein Drittel der Chinesen wurde nach den Geschehnissen geboren. Die anderen müssten darüber reden. "Sonst wird der 4. Juni nicht das Verbrechen einer kleinen Gruppe bleiben, sondern eines werden, an dem wir alle beteiligt sind. Wer schweigt, verrät die Opfer".

Und sie weiß, was das bedeutet. Vor drei Wochen war sie bei einem privaten Seminar auf dem Tiananmen. Inzwischen, sagt sie, seien viele der Teilnehmer verhaftet. "Die Situation verschlimmert sich immer weiter."