Erbil. Sargon ist verärgert. Seine Gruppe von Kämpfern steckt an dem kurdischen Checkpoint vor der assyrischen Stadt Alqosh fest. Die kurdischen Peschmerga wollen die Kämpfer nicht mit Waffen in ihre eigene Stadt im Norden des Irak lassen, aus Sicherheitsgründen. Erst nach hitzigen Debatten und Telefonaten wird der Trupp durchgelassen. Sargon gehört, wie die anderen Kämpfer auch, der assyrischen Miliz Dwekh Nawsha an. Die Gruppe wurde im August 2014, fünf Tage nach der Erstürmung von Mossul durch die Radikalislamisten des "Islamischen Staates" (IS), gegründet.
Die Gruppe von 50 Kämpfern ist ein wild zusammengewürfelter Haufen: Samir, einer der zwei Kommandeure, hat schon im irakisch-iranischen Krieg (1980-88) in Iraks Armee gedient. Neben ihm gibt es weitere kriegserfahrene Veteranen. Sargon hat Ingenieurswissenschaften studiert, bevor er sich der Gruppe anschloss. Und Sahid hat 30 Jahre lang im deutschen Essen gelebt, bevor er zurück in seine Heimat ging, um gegen IS zu kämpfen. Dazu kommen Freiwillige aus aller Welt, viele mit Militärerfahrung, die für mehrere Wochen Dwekh Nawsha unterstützen.
In Alqosh ist erneut Ruhe und ein gewisser Alltag eingekehrt, obwohl die Frontlinie mit IS nur 18 Kilometer entfernt liegt. Assyrische Priester geben wieder Messen, Kinder rennen lachend durch die Straßen und einige kleine Geschäfte haben geöffnet. Alqosh hat für die Assyrer besondere Bedeutung: In einer unscheinbaren Seitengasse befindet sich der Zugang zur einzig erhaltenen Synagoge der Region - in ihr soll sich der Sarg des Propheten Nahum befinden. Seine Prophezeiung, dass die assyrischen Stämme in alle Welt hinaus verstreut werden, ist mittlerweile eingetroffen. Seine Grabstätte wird auch von den assyrischen Christen verehrt. Über der Stadt selber liegt das Kloster Rabban Hormizd, das seltene assyrische Dokumente beherbergt. Während des Vormarsches der IS-Dschihadisten flohen die irakischen Sicherheitskräfte, weshalb die assyrischen Kämpfer die Bewachung des Klosters übernahmen und sich auf einen letzten Kampf vorbereiteten. Doch IS wurde zehn Kilometer vor Alqosh durch Kurdenkämpfer gestoppt, und mittlerweile hat die Zentralregierung wieder Polizisten zum Schutz des Klosters abgestellt.
Waffenmangel
Anders als in Alqosh sieht man in Barkofa, 15 Kilometer südlich, kaum noch Zivilisten. Die Stadt ist die aktuelle Frontlinie und beherbergt kurdische Peschmergas wie auch Kämpfer der christlichen Dwekh Nawsha. Barkofa wurde schon im Oktober 2014 wieder aus den Händen des IS befreit, seither ist die Front festgefahren. Samir zeigt in Richtung der Ortschaften Batnay und Tall Kayf, die etwa drei Kilometer entfernt liegen: "Dort befindet sich Daesh (arabisches Akronym für den IS) und startet regelmäßig Angriffe auf uns. Vor kurzem schickten sie zwei Kämpfer in unsere Richtung, es war eine Selbstmordmission." Nach einer kurzen Pause fährt Samir, sichtlich empört, fort: "Der Ältere war aus Saudi-Arabien und hatte Handgranaten mit sich. Der Zweite war ein Skandinavier und trug einen Sprengstoffgürtel. Er war viel zu jung für so eine Tat. Daesh führt eine Gehirnwäsche mit diesen Burschen durch und opfert sie dann wie Vieh." Richtig brenzlig wird es, wenn es zu direkten Feuergefechten kommt und diese länger andauern: "Wir haben nicht wirklich viele Waffen, geschweige denn genug Munition", klagt Sahid. "Wenn uns die Munition ausgeht, helfen uns die Kurden aus. Aber eine wirklich gute Ausrüstung sieht anders aus." Entsprechend kritisch fällt auch die Meinung gegenüber den westlichen Unterstützern aus: "In christlichen Medien werden wir als Helden gefeiert. Aber nur ein Bruchteil der Christen schickt uns Geld zur Unterstützung. Mit warmen Worten können wir Daesh aber nicht besiegen."
Mit finanziellen Sorgen hat auch Vater Emanuel Youkhana, Leiter der christlichen Hilfsorganisation "Capni" in Duhok sowie Sprecher für die assyrischen Christen im Nordirak, zu kämpfen: "Dwekh Nawsha hat ähnliche Probleme wie wir, wobei wir uns natürlich um tausende Flüchtlinge kümmern müssen, was finanziell wesentlich aufwendiger ist." Doch auch hier stößt die Nächstenliebe westlicher Geldgeber rasch an ihre Grenzen. Oft versiegen Gelder recht schnell, wenn neben Assyrern auch jesidische oder turkmenische Flüchtlinge unterstützt werden.
Religiöse Animositäten
Doch mit seinen weltweiten Kontakten und langjähriger Erfahrung im Fundraising hat Vater Emanuel bis dato "Capni" am Laufen gehalten. Die allermeisten Flüchtlinge wurden in Kirchen, assyrischen Einrichtungen sowie Privathäusern untergebracht. Doch es existieren auch einige Flüchtlingscamps in den kurdischen Gebieten des Nordirak, die exklusiv von Christen bewohnt werden. Da sich diese weigern, mit arabischen Flüchtlingen gemeinsam untergebracht zu werden, können diese Camps nicht vom UNO-Flüchtlingshochkommissariat finanziert werden - eine Separierung nach ethnischen oder religiösen Kriterien ist in der UN-Charta verständlicherweise nicht vorgesehen. Und so sind die Flüchtlinge auf die Spendengelder christlicher Organisationen angewiesen, bis sie wieder in ihre Heimatdörfer zurückkehren können.
Zurück in Barkufa wird in Gesprächen schnell klar, dass viele assyrische Kämpfer einen regelrechten Hass auf Araber entwickelt haben: "Unseren arabischen Nachbarn traue ich nicht mehr über den Weg. Sie haben uns alle an IS verraten." Diesen Grundtenor findet man nicht nur bei Assyrern, sondern auch bei Jesiden und Kurden. Entsprechend stiegen die Spannungen, ganze arabische Dörfer werden kollektiv bestraft, wenn sich einzelne Familienmitglieder dem IS anschließen. Es gibt sogar glaubhafte Berichte, dass arabische Häuser dem Erdboden gleichgemacht wurden, um Araber von einer Rückkehr abzuhalten.
Kommandeur Samir macht sich mehr Gedanken über den Ausbau der Miliz: "Wir müssen mehr Unterstützung bekommen, damit wir uns in naher Zukunft nicht mehr auf andere Kämpfer verlassen müssen", meint er. "Wir haben mehr als genug Anfragen von Freiwilligen, aber wir haben weder die Gelder, um diese Freiwilligen auszurüsten, noch würde die kurdische Autonomieregierung eine zu starke assyrische Armee akzeptieren. Doch unser Tag wird kommen."
Während eines Mittagsessens im Hauptquartier der Dwekh Nawsha in Barkufa wird Sargon nachdenklich: "Bisher habe ich niemanden erschossen. Ich hoffe, dass ich auch in Zukunft nicht töten muss, denn ich bin sehr religiös. Manchmal wünsche ich mir, dass das Ganze nur ein schlechter Traum ist und ich aufwache und in meinen Armen ein schönes Mädchen liegt und mich anlächelt. Aber dann wache ich wirklich auf und sehe nur meine Kameraden und unsere Waffen."
Die Fragmentierung der Gesellschaft im Nordirak entlang ethnischer und religiöser Gruppen wie auch deren Militarisierung ist eine der Schattenseiten des aktuellen Kampfes gegen IS. Selbst innerhalb der verschiedenen Gemeinschaften gibt es Spannungen. So existiert neben Dwekh Nawsha die wesentlich größere NPU, die angeblich bis zu 5500 Kämpfer unter Waffen hat (was sich aber nicht verifizieren lässt). Die NPU ist besser mit der assyrischen Diaspora vernetzt und führt militärische Operationen oft in Abstimmung mit der irakischen Armee durch - denn die NPU sieht die irakische Zentralregierung als einzige echte Schutzmacht. Gleichzeitig gibt es auch bei den Jesiden und Kurden untereinander konkurrierende Milizen. Und sollte der gemeinsame Feind IS irgendwann einmal besiegt sein, droht eine Entwicklung wie in Afghanistan, wo einander die Kriegsherren gegenseitig bekämpfen.