Die Busse nach Washington D.C. sind seit Wochen ausgebucht. Einen Tag nach der Angelobung von Donald Trump wird die linksliberale USA eine Pilgerreise ins Kapitol starten, wo sich 200.000 Menschen dem "Womens March on Washington" anschließen wollen. Das wären noch mehr Gegendemonstranten als damals bei der Angelobung von George W. Bush Jr. Das macht Trump zum wohl unbeliebtesten Präsidenten aller Zeiten. Besonders das liberale Amerika wurde von diesem Wahlergebnis eiskalt erwischt.

Wie konnte das geschehen? Warum wurde die amerikanische Linke von einem Präsidenten Trump so sehr überrascht, und welche Lehren sollte sie daraus ziehen?
Die Linke war schon einen Schritt weiter
Zu Beginn hatte kaum jemand Trump eine Chance gegeben, auch nur in die Nähe des Präsidentschaftsamts zu gelangen. Hillary Clinton wird als Siegerin hervorgehen, darin waren sich im liberalen Amerika alle einig. In den Wochen vor der Wahl plante es bereits die Zukunft ohne Trump: Sobald Trump Geschichte sei, müsse man sich darum bemühen, den "nächsten Trump" zu verhindern, hieß es etwa bei einer Diskussionsveranstaltung des "Brooklyn Institutes for Social Research". Der "neue Trump" werde rhetorisch viel gewiefter daherkommen, womöglich in Gestalt einer "Woman of Color", also einer afro-amerikanischen Frau – und werde dadurch noch gefährlicher sein.
Hillary Clinton - das kleinere Übel?
In dieser Illusion lebte das liberale Amerika bis zum Wahlabend. Auf einer Party in einer Dachgeschosswohnung in Tribeca, einem der teuersten Pflaster Manhattans, in dem sich der Rapper Jay Z ein Penthouse um fast sieben Millionen Dollar gekauft hat, wurde der Wahlabend auf Flachbildschirmen verfolgt. Der Gastgeber an diesem Abend hat nicht gerappt, sondern geerbt. Unter seinen Gästen waren keine Hillary-Fans, die Präsidentschaftskandidatin wurde lediglich als das kleinere Übel angesehen, das man angesichts fehlender Alternativen wählen müsse.
Tränen anstatt Freudentanz
Als sich herausstellte, wie knapp die Wahl werden würde, stiegen die Start Up-Gründer, Unternehmensberater und UN-Mitarbeiter auf Galgenhumor und Gin Tonic um. Selbst die Nichtraucher wurden so nervös, dass sie zur Zigarette griffen, und als Trump als sehr wahrscheinlicher Sieger feststand, waren sie am Boden zerstört. "Das ist wie nach 9/11, das wird ähnliche langfristige politische Konsequenzen haben", sagte einer von ihnen, und erinnerte sich wehmütig daran, dass er, als Barack Obama zum Präsidenten gewählt wurde, gemeinsam mit hunderten New Yorkern auf der Straße getanzt hatte.
Nicht so in diesem Jahr: Viele New Yorker weinten am nächsten Morgen in der U-Bahn, und am Abend zogen sie zu Tausenden auf die Straße. Zuerst versammelten sie sich am geschichtsträchtigen Union Square, der ein zentraler Punkt des politischen Protests ist: Hier hielt die Anarchistin Emma Goldman schon Ende des 19. Jahrhunderts Brandreden vor überarbeiteten Textilarbeitern.
10.000 Trump-Gegner auf der 5th Avenue
Ende 2016 schrien nun enttäuschte Wähler Slogans wie "Not my president" oder "Pussy grabs back" und machten sich auf zur größten Demo nach der Wahl: 10.000 Menschen zogen über die 5th Avenue zum Trump Tower. Die Demo war unorganisiert, viel Zeit zum Vorbereiten hatte es ja nicht gegeben. Da die Polizei die Straßen nicht gesperrt hatte, brachte die Menschenmasse Autos und LKW zum Stillstand, aber die festsitzenden New Yorker wurden ihrem Ruf, unfreundlich und ungeduldig zu sein, nicht gerecht: Die Truck-Driver hatten es sich auf ihren Fahrersitzen gemütlich gemacht und hupten solidarisch, Autofahrer kurbelten ihre Fenster runter, und gaben den Demonstranten High-Five.
"Lernt mal was über Demokratie"
Lediglich eine Frau war anderer Meinung, und schrie den Protestierenden entgegen: "Lernt mal was über Demokratie!". Gewissermaßen hatte sie Recht, und viele, die zuhause geblieben waren, fragten sich: Wogegen protestiert ihr eigentlich? Gegen ein demokratisches Wahlergebnis?
Auch die Demonstration am Samstag wird vor allem symbolischen Charakter haben und den Liberalen als Ventil dienen, so wie die medial viel beachtete Aktion, in der enttäuschte Wähler ihre Gefühle und Wünsche auf bunten Post-Its auf den Wänden der U-Bahnstation Union Square kundtaten. Ernsthaft infrage stellt die demokratische Legitimation Trumps kaum jemand. Die Botschaft der Proteststierenden lautet vor allem: Wir beobachten die neue Regierung genau.
"Alle hassen Hillary"
Doch gar so überraschend war Trumps Sieg rückblickend betrachtet nicht. Manche hatten eine böse Vorahnung. Ein Hacker-Aktivist teilte mir Wochen vor der Wahl besorgt mit, Trump könnte Präsident werden, denn Hillary habe zu viele Fehler gemacht. Er persönlich nahm ihr den E-Mail-Skandal übel. Und überhaupt: "Alle hassen Hillary". Natürlich gibt es etliche Gründe, Hillary Clinton nicht zu mögen. Gibt es aber nicht viel mehr Gründe, Trump nicht zu mögen?
Nuyoricans wählten Trump
Doch mit Argumenten kommt man bei Trump-Wählern nicht weit. In Washington Heights, jenem Teil Manhattans, in dem Hispanics in der Überzahl sind, traf ich auf zwei Frauen, Mutter und Tochter, die mir ihr Leid klagten: Die 30-jährige Tochter findet trotz Hochschulstudium keinen Job und lebt noch bei der Mutter, die immer steigende Miete können sie sich kaum noch leisten, sagen die "Nuyoricans", wie New Yorker mit puertoricanischen Wurzeln genannt werden. Sie wählten Trump, weil sie Veränderung um jeden Preis wollen.
Im New Yorker Umland denkt man anders
Hohe Mieten betreffen in New York fast jeden, doch anders als die "Working Poor" hat das Bildungsbürgertum wenigstens Perspektiven und Handlungsspielraum. Dem liberalen Amerika muss man also vorwerfen, in einer Blase zu leben. Um zu sehen, wie die Menschen im ruralen Amerika denken, hätte es genügt, nach Beacon, einem beliebten Ausflugsort eine Stunde außerhalb von New York City zu fahren: In der ehemaligen Industriestadt outeten sich viele Bewohner mit Schildern vor ihren Häusern als Trump-Fans, manche wiederholten gar Trumps Forderung, Hillary solle man verhaften.
Schwarze Trump-Wähler und Thanksgiving-Tipps
Unter den Afro-Amerikanern findet man weniger Trump-Unterstützer, aber auch hier gibt es sie. "Die Leute waren eben nicht zufrieden mit Obamas liberalem Kurs, der Homo-Ehe und all dem. Schauen wir mal, was Trump macht", sagt Colin Wilson, ein großgewachsener, stets gut gelaunter Schwarzer mit jamaikanischen Wurzeln.
Wie gespalten das Land ist, zeigt sich oft auch innerhalb der eigenen Familie: Die Hälfte ihrer Familie habe Trump gewählt, erzählt eine afro-amerikanische Uni-Mitarbeiterin. Sie selbst ist gegen Trump, weshalb die Stimmung zu Thanksgiving – dem wichtigsten amerikanischen Feiertag – sehr angespannt war. Die New York Times hatte kurz vor Thanksgiving Tipps veröffentlicht, wie man Diskussionen zwischen den beiden Lagern führen kann, ohne den Familienfrieden zu gefährden.
Niemand wagt es, am Status Quo zu rütteln
Interessant ist, dass diese politischen Grabenkämpfe meist im Sand verlaufen, da es niemand wagt, am Status Quo zu rütteln. Dieser sieht so aus: Trotz Obamacare zahlt man tausende an Dollars für Zahnbehandlungen. Die Mietpreise sind hoch (im Schnitt geben New Yorker Zweidrittel ihres Einkommens für die Miete aus, ein WG-Zimmer um 1000 Dollar gilt als Schnäppchen).
Fast alle bleiben nach dem Hochschulstudium auf einem Schuldenberg sitzen (ein Doktoratsstudent der Komparatistik mit 150.000 Dollar Schulden erzählte mir, er habe Angst, dass er, falls er keinen Job findet, obdachlos werden könnte). Findet man einen Job, hat man Anspruch auf zwei Wochen Urlaub pro Jahr, von denen jeder Krankenstandtag abgezogen wird. Anstatt in Mutterschutz gehen zu können, müssen sich Frauen unbezahlten Urlaub nehmen.
Kaum jemand will für Sozialleistungen mehr Steuern zahlen
US-Amerikaner leben in einem System, das nie anders war, und staunen, wenn Europäer von Arbeitslosen- oder Karenzgeld berichten. Trotzdem sind viele nicht bereit, für Sozialleistungen mehr Steuern zu zahlen. Wie kommt es, dass im Land der unbegrenzten Möglichkeiten selbst Linke den Status Quo als scheinbar gottgegeben hinnehmen und ihre politischen Maßnahmen vornehmlich im privaten Raum setzt? Ist es Resignation? Ist es Bequemlichkeit?
Es reicht nicht, Trump-Piñatas zu basteln
Zumindest habe das Wahlergebnis den versteckten Rassismus und Sexismus offengelegt und gezeigt, wie fragil Demokratie ist, lautet nun das Mantra der Optimisten. Doch die wahre Hoffnung liegt darin, dass Amerika endlich aufwachen könnte. Denn so schwer es derzeit für viele zu glauben ist: Trump ist nicht die Wurzel allen Übels, sondern nur ein Symptom, und anstatt ihn, sollte man lieber die soziale Ungleichheit im Land bekämpfen.
Engagement außerhalb der sozialen Blase
Klar macht es mehr Spaß, mit Gleichgesinnten im Gemeinschaftsgarten und der Lebensmittelkooperative aktiv zu sein und sich für wiederverwertbare Kaffeebecher stark zu machen, als Trump-Anhängern zuzuhören und mit ihnen zu diskutieren. Doch politisches Engagement bedeutet eben auch, sich aus der sozialen Blase, in der mann es sich bequem gemacht hat, hinauszubewegen. Das zutiefst gespaltene Amerika braucht weder Trump-Piñatas, noch kämpferische T-Shirts. Was es baucht, ist der Dialog zwischen den Lagern.
Eine 33-jährige New Yorkerin, ihre Eltern stammen aus Pakistan, überlegt nun, selbst in die Politik zu gehen. "Eigentlich müsste man aufs Land ziehen, von Tür zu Tür gehen und mit den Menschen sprechen", sagt sie, und fügt hinzu: "Ich weiß aber nicht, ob ich dazu bereit bin."
"Gehe an unbekannte Plätze mit unbekannten Menschen. Knüpfe neue Freundschaften und marschiere mit ihnen", ist einer jener 20 Tipps, die der Historiker und Holocaust Experte Timothy Snyder nach der Wahl gab (siehe Box). "Es kann sich zuerst seltsam anfühlen, anders zu sprechen oder zu agieren. Aber ohne dieses Unbehagen gibt es keine Freiheit."