
In der Debatte scheint es oft so, als stünden zwei Camps einander unversöhnlich gegenüber: "Das Boot ist voll" und "Grenzen Dicht" heißt es auf der einen Seite, "Open Borders" und "Refugees Welcome" auf der anderen. Ist für Grautöne denn gar kein Platz?
Das ist oft reine Rhetorik. Es geht vielfach nur darum zu signalisieren, wo man politisch steht. Jede politische Gemeinschaft hat eine bestimmte Identität und auch Grenzen und Abgrenzungen geben uns Identität. Allerdings: Die Anti-Migrations-Parteien stimmen zwar darin überein, dass die Außengrenzen gestärkt werden müssen, was aber an den Grenzen zwischen den Nationalstaaten passieren soll, darüber herrscht Uneinigkeit. Die nationalistischen Parteien in den europäischen Mitgliedsländern werden sich aus diesem Grund auf keine gemeinsame Linie einigen können: Die halben Lösungen, die wir derzeit überall sehen - sei es, dass sie aus Brüssel kommen, sei es, dass etwa die bayrische CSU auf solche Lösungen drängt, oder sei es, dass Italiens Innenminister Matteo Salvini mit irgendwelchen Vorschlägen daherkommt -, sind nur deshalb möglich, weil die Zahl der Migranten und Flüchtlinge, die derzeit in Europa ankommen, dramatisch gesunken ist.
Bleiben wir noch kurz bei Italien ...
Mit dem größten Vergnügen. In Rom sind nun zwei Parteien an der Macht, die in Reaktion auf zwei unterschiedliche Krisen dorthin gekommen sind. Die Fünf-Sterne-Bewegung ist eine Folge der Finanzkrise, die nach der Lehman-Pleite von 2008 nach Europa geschwappt ist. In der Bewegung Cinque Stelle gibt es eine partizipative Dimension, es gibt den Wunsch nach einer Änderung der Politik auf breiter Ebene, es gibt eine kapitalismuskritische Komponente und die Fünf-Sterne-Bewegung ist eine Partei des permanenten Referendums. Der Aufstieg der Lega kam in Gefolge der Migrationskrise, die im Sommer 2015 ihren Höhepunkt hatte.
Es ist schon paradox: Die Migrationskrise verwandelte die separatistische Lega Nord in eine nationalistische italienische Partei. Die italienische Regierung wird nun also von zwei unterschiedlichen Protestbewegungen gebildet: Ich bin davon überzeugt, dass die Anti-Migrationspartei Lega in dieser Koalition erfolgreicher sein wird als die Cinque Stelle. Und zwar aus einem ganz simplen Grund: Es ist viel einfacher für Herrn Salvini, auf dem Politikfeld der Migration eine symbolische Politik, die sich von der Politik der Vorgänger massiv unterscheidet, zu machen, als auf dem Feld der Wirtschaftspolitik. Es ist viel einfacher für Salvinis Lega, Rettungsschiffe zu stoppen, als es für Luigi Di Maios Fünf-Sterne-Bewegung ist, die Wirtschaftspolitik komplett umzukrempeln.
Das bedeutet: Jedes Mal, wenn Kapitalismuskritiker auf Migrationsgegner prallen, werden die Migrationsgegner gewinnen. Italien ist aus einem weiteren Grund interessant: Denn das Land hat sowohl die Probleme von Westeuropa, als auch jene Osteuropas. Einerseits erlebt Italien die Überalterung, wie sie viele westliche Gesellschaften erleben, gleichzeitig ist das Land mit der Abwanderung - speziell von jungen Leuten - konfrontiert, wie wir das im Osten erleben.