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Die alten Wunden platzen auf

Von Konstanze Walther

Wirtschaft

Argentinien erlebt derzeit die schlimmste Inflation seit Jahrzehnten. Ökonom Joachim Becker sieht heute in dem Land ähnliche Probleme, die zur Krise 2001 geführt hatten.


Buenos Aires/Wien. Es ist wieder so weit. Die Verbraucherpreise in Argentinien sind im Dezember 2018 im Vergleich zum Vorjahr um fast 50 Prozent gestiegen. Zuletzt waren die Preise binnen Jahresfrist 1991 so stark angezogen.

Auch im internationalen Vergleich sieht es bedenklich aus: die Landeswährung Peso verlor 2018 massiv an den Dollar, es war die stärkste Abwertung seit 2002, als die Währung vom US-Dollar entkoppelt wurde.

Um die derzeitige wirtschaftliche Misere des südamerikanischen Landes zu verstehen, muss man einen Blick in die Vergangenheit werfen - denn viele Probleme von heute haben dort ihre Wurzeln. Sie sind nie oder nur unzureichend behoben worden. Die Politik versucht, je nach ideologischer Ausrichtung, immer den ihrem Lager eigenen, oft schon gescheiterten Lösungsansatz. Und die Bevölkerung reagiert aus der Geschichte heraus mit reflexartigem Misstrauen gegenüber Beschränkungen im Währungsverkehr und antwortet im Zweifel mit einem Bankenrun.

"Argentinien leidet unter zwei grundlegend verschiedenen Entwicklungsmodellen, die zu zwei unterschiedlichen sozialen Blöcken gehören. Je nachdem, welche Regierung an der Macht ist, schlägt das wirtschaftspolitische Pendel massiv in die eine oder andere Richtung aus", erklärt Joachim Becker, stellvertretender Vorstand des Instituts für Außenwirtschaft und Entwicklung an der Wirtschaftsuniversität Wien. Extrem liberale Wirtschaftspolitik stehen den protektionistisch denkenden Peronisten gegenüber.

Vor dem Präsidenten Carlos Menem (1989 bis 1999 im Amt) grassierte eine Hyperinflation in dem Land. Menem versuchte die Währung zu stabilisieren, indem er mit dem Wechselkurs-Gesetz den Peso an den US-Dollar mit einem Kurs 1:1 festsetzte - eine künstliche Aufwertung des Peso.

Das stabilisierte zwar vorerst die Entwicklung der Verbraucherpreise, führte aber zu einer massiven Auslandsverschuldung.

Die Importe waren auf einmal extrem billig, die einheimische Industrie konnte da im Wettbewerb nicht mehr mithalten. Das hat auch dazu geführt, dass das Leistungsbilanzdefizit sowie die Auslandsverschuldung Argentiniens deutlich gestiegen sind. "Die Verschuldungsdynamik im Land war stark von der Nutzung von US-Dollar geprägt. Die Menschen hatten sowohl Dollar-Konten als auch vielfach Dollar-Kredite aufgenommen. Sogar die Miete ist damals in Dollar gezahlt worden", erklärt Becker.

Das geht nur solange gut, als die Verlockung der hohen Zinsen Kapital ins Land fließen lässt. Doch ab dem Zeitpunkt, als klar wurde, dass es sich um ein Kartenhaus handelt, das jederzeit einstürzen kann, haben die Menschen Geld von den Konten geräumt. Es kam zu einem veritablen Bankenrun. Den Banken ging das Kapital aus.

"2001 ist es zuerst zum Einfrieren der Konten gekommen, dem sogenannten Corralito, und danach zu einer scharfen Abwertung des Pesos", erzählt Becker. Es war der Höhepunkt der Argentinienkrise.

Agrarindustrie will ungehinderten Außenhandel

"In der Zeit der 1980er Jahre bis Beginn 2002 sowie aktuell unter dem jetzigen Präsidenten Mauricio Macri ist jener Block an der Regierung, der Agrarinteressen und Finanzgruppen vertritt. Die haben auch einen deutlichen Rückhalt in Teilen der städtischen Mittelschicht", erklärt Becker: Die Agrarinteressen schielen auf den Export, Agrar- und Finanzlobby setzen sich stark für ungehinderte Außenwirtschaftsbeziehungen ein. "Damit kommt der Schutz für die verarbeitende Industrie im Inland zu kurz. Ebenso wie eine Sozialpolitik, die die Nachfrage stabilisieren könnte."

Nach der Explosion der Argentinien-Krise 2001/02, die von einer tiefen Rezession und extrem hoher Arbeitslosigkeit geprägt war, ist dann das wirtschaftspolitische Pendel in die Gegenrichtung ausgeschlagen: Die Abwertung des Pesos wurde zugelassen. Nach und nach ist die argentinische Wirtschaft wieder mit Pesos betrieben worden. Die Dollarisierung ist unterdrückt worden.

Die Regierung von Nestor Kirchner hatte Glück: Global sind die Rohstoffpreise gestiegen. Gemeinsam mit der starken Abwertung des Pesos ist der Export wieder in Gang gekommen.

Die Produktion für die Industrie und für den Binnenmarkt lebte wieder auf, die peronistische Sozialpolitik hat die Binnennachfrage stabilisiert.

Andererseits hat das Land auch die ererbten Auslandsschulden vorerst nicht gezahlt und konnte sich als Pleite-Land kein Geld auf den Finanzmärkten besorgen. Die Aufschiebung und Umschuldung der Schulden und die Nicht-Bedienung der Zinsen hat dem Land dafür Raum zum Atmen gegeben. Devisen sind dafür über die steigenden Exporte ins Land gekommen.

"Man kann sagen, dass unter Nestor und Cristina Kirchner mit ihrer Sozialpolitik und protektionistischen Wirtschaftspolitik das Pendel in mehreren Schritten zurückgeschlagen ist", sagt Becker. Das stieß nicht nur auf Gegenliebe: Unter Cristina Kirchner kam es etwa zu bitteren Auseinandersetzungen mit dem Agrarsektor um die Frage von Zöllen auf Exporte. In dem Punkt hat sich die Regierung nicht durchsetzen können, es hat eine offene Rebellion des Agrarsektors gegeben, der eine mächtige Rolle in Argentiniens Wirtschaft spielt. Agrarexporte machen über die Hälfte der argentinischen Ausfuhren aus.

Dann gingen unter Cristina Kirchner die globalen Rohstoffpreise zurück. Die außenwirtschaftlichen Beziehungen haben sich damit verschlechtert, weniger Devisen kamen ins Land. Für den Teil der Schulden, den Argentinien noch zahlen wollte, brauchte das Land aber Devisen und beäugte misstrauisch jede Ausfuhr von fremden Währungen. Schließlich führte Kirchner "eine verdeckte Form der Devisenkontrolle" ein, erzählt Becker. Das sei auf massive Widerstände in der Mittelklasse gestoßen.

"Das führte dann auch zum Wahlsieg von Mauricio Macri. Wieder ging das Pendel in die andere Richtung.", so Becker. Die Regierung Macris kommt aus der Geschäftswelt, die Agrarlobby ist gut vertreten. "Die haben das Ruder wieder um 180 Grad gedreht."

Nach der Abschottung wieder die komplette Öffnung

Die Beschränkungen im Devisenverkehr sind aufgehoben worden. Es ist dann zu einer Abwertung der Währung gekommen. Und es ist ein Abkommen mit jenen Gläubigern geschlossen worden, die die Umschuldung nicht akzeptiert gehabt hatten. Das war zwar eine kleine Minderheit, das hieß aber auch, dass kräftig gezahlt werden musste. In bestimmten Bereichen sind Sozialpolitik sowie Protektionsmaßnahmen zurückgefahren worden.

"Damit haben sich die außenwirtschaftlichen Konten erneut verschlechtert. Die zurückgestaute Kapitalflucht hat volle Fahrt aufgenommen. Es ist massiv Kapital aus Argentinien abgezogen worden", erzählt der Ökonom Becker. "Die Auslandsverschuldung hat stark zugenommen, die Leistungsbilanz hat sich erheblich verschlechtert. Diese liegt derzeit bei einem Defizit von fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts, das gilt in der Volkswirtschaft als kritische Grenze."

Damit hat sich, ähnlich wie in der Vergangenheit, eine Spirale von Abwertung und Inflation in Gang gesetzt. Diese Abwertungsdynamik hat sich zuletzt noch einmal stark beschleunigt, denn: "Argentinien war neben der Türkei eines der Länder, die durch die veränderte US-Zinspolitik stark betroffen sind. Sowohl Argentinien als auch die Türkei haben Wirtschaftsmodelle, die von der Zufuhr von Auslandskapital durch Auslandsverschuldung getragen sind. Eine Verteuerung der Verschuldung, die durch die veränderte US-Zinspolitik in Gang gesetzt wird, trifft Argentinien besonders stark", analysiert Becker.

Die momentane argentinische Regierung kann aufgrund ihrer wirtschaftspolitischen Orientierung keinerlei Kapitalverkehrskontrollen einführen, das würde das Spiel der freien Kräfte behindern. Aber durch die Hintertür ist die argentinische Ökonomie mit dieser massiven Auslandsverschuldung in gewisser Weise redollarisiert worden. "Das heißt, die Verwundbarkeiten, die zur Krise 2001 geführt hatten, sind nun zum Teil wieder entstanden", meint Becker. "Die Regierung Macri legt auf den Industriesektor überhaupt keinen Wert, sondern setzt, wie viele ihrer ideologischen Vorgänger in Argentinien, auf den Agrar- und Finanzsektor sowie die damit verbundenen Dienstleistungen. Das geht Hand in Hand mit einer hohen strukturellen Arbeitslosigkeit, denn in Agrar und Finanz sind Arbeitsplätze nur begrenzt vorhanden." Becker räumt aber ein, dass Macri die soziale Basis im Land nicht komplett erodieren ließ.

Dass Macri den Internationalen Währungsfonds (IWF) wieder ins Land rief, der schon in den 1990er Jahren die Krise verschlimmerte, ist für Becker Anlass zur Sorge. Denn auch wenn der IWF in der Zwischenzeit Fehler im Umgang mit Argentinien eingeräumt hat, so ist die "Medizin, die er heute verordnet, noch immer dieselbe - nur die Dosierung eine andere." Das bedeutet: eine restriktivere Fiskalpolitik, eine Kürzung der Sozialausgaben. Aber an einer Diversifizierung der Exporte oder der Etablierung einer Kompromisskultur werde nicht gearbeitet.