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Moderne Geldtheorie: Staatsschulden spielen keine wirkliche Rolle mehr

Von Thomas Seifert

Wirtschaft

Laut einer Gruppe von Ökonomen wird die Bedeutung von Staatsschulden überschätzt, und die Sorge um Inflation ist unbegründet. Im Zentrum der Theorien dieser Gruppe steht der Staat als Garant von Währung und Geld.


Wien. Ist es nicht paradox: Der Staat muss sparen. Der Staat hat nicht genug Geld für Pflege, Schulen, Universitäten, Sozialhilfe. Dabei kann der Staat - oder besser die Notenbank - einfach Geld drucken. Die Federal Reserve in Washington, die EZB in Frankfurt oder die Bank of Japan in Tokio könnten - wenn sie wollten - sich als Finanzalchemisten betätigen und einfach aus dem Nichts Geld erschaffen. Wenn das aber so einfach ist, warum braucht der Staat das Geld der Steuerzahler? Warum druckt der Staat nicht einfach Geld, wenn er welches braucht?

Die simple Antwort orthodoxer Ökonomen lautet in einem Wort: Inflation. Und zur Unterstreichung werden dann noch Ortsnamen hinterhergeschoben: Weimar. Zimbabwe. Venezuela. Wenn der Staat erst einmal beginnt, wie verrückt Geld zu drucken, kommt es zum Währungsverfall, Hyperinflation und schließlich zum Kollaps der Volkswirtschaft, sagen orthodoxe Ökonomen.

Doch so einfach ist es nicht. Denn die Inflation ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.

Und diese Erkenntnis ist einer der Ausgangspunkte der "Modern Monetary Theory" (MMT). Um MMT wurde in den vergangenen Monaten viel Wind gemacht, weil die populäre demokratische US-Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez, aber auch der demokratische Kongressabgeordnete Bernie Sanders sich auf diese Theorie berufen haben.

Laute Kritik an der Theorie

Zuvor wurde die weniger als ein Vierteljahrhundert alte Theorie in Ökonomenkreisen kaum beachtet - und auch heute wird die Theorie von den meisten Ökonomen heftig kritisiert: Bei einer Anhörung im US-Senat meinte der Vorsitzende der Federal Reserve, Jerome Powell, Ende Februar: "Die Vorstellung, dass Defizite keine Rolle spielen, wenn ein Land sich in der eigenen Währung verschulden kann, ist einfach falsch", sagte er.

Aber auch linke Ökonomen kritisieren die Theorie: Der Nobelpreisträger Paul Krugman setzte sich bereits im März 2011 in einem Artikel kritisch mit der Theorie auseinander: "Die Idee, dass Defizite keine Rolle spielen und dass die Tatsache, dass wir über unsere eigene Währung verfügen, unsere Probleme löst, verstehe ich einfach nicht." Im Februar dieses Jahres schrieb Krugman eine weitere Kritik. Die Demokratische Agenda könne nicht einfach nur Geld ausgeben sein, sondern den Ausgaben müssten eben Steuern gegenüberstehen. Ein zweiter schwergewichtiger Gegner der MMT, der ebenfalls den Demokraten nahesteht, ist Lawrence Summers. In der "Washington Post" schrieb der ehemalige Staatssekretär im Finanzministerium unter US-Präsident Bill Clinton und Direktor des National Economic Council unter Barack Obama, dass er die Hinwendung der Linken zur Modern Monetary Theory für ein "Rezept für ein Desaster" hält. Der im März publizierte Text schloss mit den Worten: "Es gibt weder für die Rechten noch für die Linken ein Gratis-Mittagessen. Es liegt in der Verantwortung von seriösen Ökonomen, das klarzustellen."

Die Vertreter der Modern Monetary Theory fühlen sich naturgemäß missverstanden.

MMT beruft sich auf das 1905 erschienene Werk des deutschen Nationalökonomen Georg Friedrich Knapp: Die "Staatliche Theorie des Geldes". Knapp schrieb: "Das Geld ist ein Geschöpf der Rechtsordnung." Vor allem seit dem Ende des Goldstandards fußt die Akzeptanz modernen Geldes auf den Glauben an den Staat, der für die Währung einsteht: Man spricht seither von einer "Fiat-Währung". Der Staat gibt das Geld heraus und bestreitet damit seine Ausgaben.

Die Vertreter der MMT begeben sich auf die Spur des Geldes: Für Warren Mosler, einen der führenden Köpfe der Theorie, ist klar, dass die Notenbank und damit der Staat die Quelle allen Geldes ist (siehe Interview). Zuerst wird das Geld geschaffen, dann mit staatlichen Investitionen oder Löhnen und Gehältern in Umlauf gebracht und dann wird ein Teil des Geldes wieder in Form von Steuern "eingesammelt". Steuern sind also in den Augen der Proponenten der MMT kein Finanzierungsinstrument des Staates, sondern sie dienen dazu, die Inflation zu begrenzen, und sie dienen darüber hinaus als Umverteilungsinstrument. Staatliche Defizite sind für die Vertreter der modernen Geldtheorie eine Quelle privater Ersparnisse.

Nach der Modern Monetary Theory dienen auch Staatsanleihen nicht der Finanzierung von Staatsschulden, sondern der Zinssteuerung. Der Staat will mit der Ausgabe von Staatsanleihen schlicht verhindern, dass der Zins auf null fällt, indem er Zinsen zahlt.

Die US-Wirtschaftswissenschafterin Stephanie Kelton, eine weitere Proponentin der Modern Monetary Theory (im kommenden Jahr erscheint ihr Buch "The Deficit Myth: Modern Monetary Theory and the Birth of the People’s Economy"), ist der Meinung, dass Ökonomen und Politiker zu sehr in Angststarre verfallen, wenn es ums Staatsdefizit geht - und verweist auf Japan, wo die Schulden 253 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung ausmachen. Trotzdem hat das Land so gut wie keine Inflation. Kelton - sie ist auch im Beraterstab des demokratischen Senators Bernie Sanders (der Sozialist bewirbt sich auch diesmal um die Nominierung bei den Demokraten) - sprach in der beliebten US-Radiosendung "Planet Money" im September 2018 davon, dass Inflation erst dann ein Problem werde, wenn der Staat mehr Geld ausgibt, als der Markt absorbieren kann. Wenn etwa so viele Bauprojekte in Auftrag gegeben werden, dass nicht mehr genügend Arbeiter, Zement oder Ziegel zur Verfügung stehen und somit die Preise steigen. "Jede Volkswirtschaft hat eine Konjunktur-Geschwindigkeitsbegrenzung. Aber diese Geschwindigkeitsbegrenzung hat mit Ressourcenknappheit zu tun." Kelton gilt auch als eine der Vordenkerinnen der demokratischen Idee einer Jobgarantie. Sie kritisiert, dass der Staat, um die Wirtschaft anzukurbeln, an der Zinsschraube herumdreht: Der Staat solle nicht den Umweg über die Notenbank gehen und die Zinsen senken, sondern der Staat solle einfach Leute einstellen, wird sie in der Sendung auf National Public Radio (NPR) zitiert.

Was tun gegen Inflation?

Doch selbst wenn man die Thesen der Vertreter der Modernen Geldtheorie akzeptiert: Wie lässt sich Inflation steuern? Regierungen erhöhen etwa Steuern nur im äußersten Notfall, denn schließlich wollen Regierungen wiedergewählt werden. Steuererhöhungen sind da nicht unbedingt ein gutes Rezept.

Die Antwort der Vertreter der Modernen Geldtheorie: Es braucht Automatismen. Mit einem sensibel ausbalancierten Modell aus Steuern und Staatsausgaben könnte der Staat viel direkter und schneller auf Konjunkturprobleme und Herausforderungen durch eine zu hohe oder zu niedrige Inflationsrate reagieren.

Man kann davon ausgehen, dass die Debatte um die Moderne Geldtheorie im Zuge des US-Wahlkampfs weiter an Fahrt aufnehmen wird: Linke Kritiker halten sie für weltfremd, rechte Gegner für ein Vehikel zur Rechtfertigung von Staatsschulden. Für Diskussionsstoff ist gesorgt.