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Europas Strom: Zusammen, aber getrennt

Von Konstanze Walther

Wirtschaft

Mit Juli beginnt die Umsetzung des vierten Anlaufs, den Strombinnenmarkt ein Stück mehr Realität werden zu lassen.


Brüssel/Wien. Wozu braucht Europa einen Strombinnenmarkt? Nun, jeder, der nicht zu 100 Prozent eigenen Strom produziert, mittels privater Photovoltaik oder privaten Windrädern, benötigt Strom aus dem Stromnetz.

Produziert wird dieser Strom entweder unter grünen Gesichtspunkten, oder nach herkömmlicher Art, in Kohlekraftwerken oder AKW-Meilern. Letzteren ist es egal, wo man sie aufstellt. Anders bei den grünen Stromlieferanten: Wasserkraft kann man logischerweise nur dort produzieren, wo viel Wasser ist, Sonnenenergie ist dort sinnvoll, wo viele Sonnentage sind. Und für Windräder sollte man sich möglichst exponierte Orte aussuchen.

Das Gute ist: Europa hat von all diesen Stellen mehr als genug. Viel Sonne im Süden. Viel Wind im Norden. Und viel Wasserkraft, in der Mitte, etwa in Österreich.

Doch die Stromverbraucher wohnen oft nicht neben den Produktionsorten. Das gilt beim grünen genauso wie beim konventionellen Strom.

Also muss der Strom hergeleitet werden. Und hier sollten Grenzen keine Rolle spielen. In der Theorie. In der Praxis ist es aber noch immer so: Denn jedes Land protegiert mehr oder weniger seine eigene Erzeugung.

Wie schwer kann es sein, in Europa einen Strombinnenmarkt zu erreichen? Sehr schwer, sagen die einen. Es ist noch ein langer Weg Die anderen sagen: Alles eine Definitionsfrage. In gewisser Weise habe man bereits einen europäischen Binnenmarkt für Strom. Es gibt die dafür notwendigen grenzübergreifenden Leitungen. Es gibt den dafür notwendigen Austausch.

Der europäische Strombinnenmarkt ist "unvollständig", formuliert es diplomatisch der Leiter des heimischen Regulators E-Control, Wolfgang Urbantschitsch, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Natürlich sei das nichts, was von heute auf morgen umzusetzen ist, meint Urbantschitsch.

Auch wenn "heute" in dem Fall schon länger her ist: Begonnen hat es in Brüssel vor zwanzig Jahren. Jetzt sind die EU-Länder gerade dabei, die vierte Auflage der Binnenmarkts-Intensivierung zu implementieren. Die steht ganz unter dem Zeichen von Clean Energy. Anfang Juli ist der erste Teil der Novelle in Kraft getreten, da geht es um den Stromhandel. Vieles hat bis Ende 2020 Zeit.

Zügig ist das nicht, wenn man bedenkt: Schon vor acht Jahren haben sich die europäischen Staats- und Regierungschefs für einen Strom-Binnenmarkt entschieden. Zumindest war das als Lippenbekenntnis da. Florian Ermarcora, der in der Generaldirektion Energie der Europäischen Kommission in Brüssel arbeitet, gibt zu, dass seine Abteilung ein wenig überrascht war, als man mit den Verhandlungen für die gewünschte Reform zur Vereinheitlichung begonnen hat.

Denn jeder Mitgliedsstaat hat sehr stark auf seine nationale Situationen Bezug genommen und wollte dementsprechend Ausnahmen und Klauseln haben.

Ermacora räumt aber auch ein: Die Länder haben sehr unterschiedliche Ausgangspositionen. "Wir haben in Frankreich viel Atomstrom. In Deutschland ist die Energiewende (die Umstellung auf Ökostrom) sehr national gestartet. Und wir haben in Polen eine Kohlelastigkeit" bei der Erzeugung.

Wozu also eine gemeinsame Lösung aus einem Guss? "Ein europäischer Strombinnenmarkt ist deutlich kostengünstiger beim Ausbau der erneuerbaren Energien, als wenn man das über nationale Subventionsmodelle weiter führt. Da spart man sich Milliarden Euro ein", erklärt Ermarcora.

Mit dieser vierten Auflage, den europäischen Strommarkt zu reformieren, soll das Pariser Klima-Abkommen umgesetzt werden. Dessen Ziele wurden für 2030 heruntergebrochen. Das bedeutet etwa 40 Prozent CO2-Reduktion, ein Energieeffizienz-Ziel von 32,5 Prozent und den Ausbau der Erneuerbaren Energie auf 32 Prozent der Stromversorgung.

Flexibler und lokaler

Ein wichtiger Punkt bei der Strommarkt-Reform ist auch, erneuerbare Energie kostengünstiger zu machen. "Man muss weg von den starren Subventionen", sagt Ermarcora mit Blick auf Deutschland. Flexibiliät wird dagegen in den Vordergrund geholt. Das hat auch mit den neuen Erzeugungsformen zu tun: Wind und Sonne sorgen für hohe Fluktuation am Strommarkt. "Dementsprechend müssen wir stärker auf die Spotmärkte gehen", was den Zukauf von Energie betrifft.

Zudem soll die Rolle des Konsumenten gestärkt werden. Denn grenzüberschreitende Leitungen gut und schön, aber praktischer ist es, wenn man zwar nicht ein Subsistenz-Haushalt ist, aber sich in einer lokalen Energiegemeinschaft wieder findet. "Gerade in Österreich werden wir sehr viel mehr Solarenergie auf den Dächern sehen", meint Ermacora. Regulatorisch wird die Zusammenschließung von dezentraler Produktion gefördert. Diese "Bürgerenergiegemeinschaften" ermöglichen, auf lokaler Ebene Strom mit seinen Nachbarn austauschen können.

In Zukunft soll auch Mitgliedsstaaten die Möglichkeit genommen werden, ihre fossilen Kraftwerke oder ihre AKW zu subventionieren mit dem Argument, man brauche die Kraftwerke um eine Stabilität der Versorgung zu garantieren. Denn da müsse das Land zuerst Strom aus dem europäischen Ausland zum Ausgleich importieren. "Wenn die Leitungsstruktur da ist, dann muss sie effizient genutzt werden", erklärt Ermarcora. Freilich kann die EU den Ländern nicht vorschreiben, wo sie ihre Leitungen bauen.

Notfalls Herunterfahren

Aber man kann Anreize schaffen. Dazu fällt etwa das Novum im schon erwähnten Strompreishandel. Bis 2025 soll bei den existierenden Stromleitungen mindestens 70 Prozent für den zwischenstaatlichen Stromhandel verfügbar sein. Es ist eine Regelung, die im Endeffekt auf den Spezialfall Deutschland Rücksicht nimmt. Denn eigentliche müsste das große EU-Land zwei verschiedene Preiszonen für Energie haben: Es gibt ein Überangebot an Strom durch die gigantischen Massen an Windenergie im Norden, während die AKW im Süden vor der Abschaltung stehen. Dazwischen klafft ein "notorisch großes Leitungsproblem", so Ermarcora. Der überschießende Strom aus Norddeutschland bahnte sich seinen Weg in die Nachbarnetze.

Solche unkontrollierten Stromflüsse heißen loop flows und sie werden höchst ungern gesehen. Denn die belasten die Netze und lassen den regulierten Strom, mit dem geplant wurde, nicht weiter fließen. Polen hat deswegen sogar einen speziellen Transformator an die Grenze zu Deutschland angebracht, um im Bedarfsfall den Hahn zuzudrehen.

Die neue Regelung sieht vor, dass, um auf eine Kapazität von mindestens 70 Prozent im zwischenstaatlichen Handel zurückgreifen zu dürfen, die Länder diese loop flows verringern müssen. Entweder sie schalten ihre Energieerzeugung kurzzeitig ab. Oder sie entlasten die Netze, indem sie neue Leitungen errichten. Wenn das nicht funktioniert, müssen sie unterschiedliche Preise im eigenen Land in Kauf nehmen.