London/Wien. Am 1. November 2019 fängt für das Vereinigte Königreich eine neue Zeitrechnung an. In der Nacht zuvor hat das Land die Europäische Union verlassen - ungeordnet, ein No-Deal-Brexit, Austrittsabkommen mit der EU gibt es keines. Die Folgen sind katastrophal: Bis zu 85 Prozent der Lkw, die über den Ärmelkanal nach Frankreich fahren sollen, sind nicht auf die Zollkontrollen vorbereitet. Die Wartezeiten betragen rund zweieinhalb Tage, es können aber auch Monate sein. Am Londoner Bahnhof St Pancras, am englischen Terminal für den Kanaltunnel Cheriton und am Hafen von Dover warten hunderte Menschen darauf, nach Frankreich übersetzen zu können. Frische Lebensmittel, Medikamente und Benzin werden knapp, die Preise steigen.
Weil die EU nun auch Zölle auf Benzin einhebt, stürzt die britische Ölbranche ins Chaos. Zwei Raffinerien schließen, mehr als 2000 Menschen verlieren auf der Stelle ihre Jobs. Auf der anderen Seite der Irischen See gibt es wieder eine harte Grenze: Zwischen Irland und Nordirland werden Kontrollen eingeführt, tausende Menschen sind tagtäglich betroffen. In britischen Städten kommt es zu Protesten und Ausschreitungen, die Polizei ist überfordert, der Zorn der Briten wächst.
So oder so ähnlich könnten die ersten Wochen nach einem No-Deal-Brexit aussehen. Die geschilderten Horrorszenarien stammen aus einem soeben geleakten Geheimpapier der britischen Regierung. Es ist bereits mehrere Monate alt, der neue Premier Boris Johnson spielt die Sache herunter. Er spricht von einem "mikroskopisch kleinen" Effekt des Brexit auf die britische Wirtschaft und träumt davon, sein Land, einmal aus den Fängen der EU befreit, zur alten Größe zurückzuführen. Doch dem widersprechen viele. "Das ist nicht ,Project Fear", sagt ein hochrangiger Parlamentarier über das geleakte Papier. "Das ist die realistischste Einschätzung davon, was die Öffentlichkeit bei einem No-Deal erwartet."
Die Regierung dürfte das Ausscheiden aus der EU jedenfalls durchaus ernst nehmen - und ernst meinen. So erklärte Brexit-Minister Steve Barclay am Freitagabend, Großbritannien werde keinen Kandidaten für die neue EU-Kommission nominieren. Damit bekräftigte er, was Premierminister Boris Johnson bereits am 25. Juli erklärt hatte, nämlich "die klare Entschlossenheit", am 31. Oktober die EU unter allen Umständen zu verlassen. Und da die neue EU-Kommission ihr Amt erst am 1. November antritt, "brauchen wir keinen neuen Kommissar".
Während die einen die Auswirkungen des Brexit herunterspielen und Warnungen als Panikmache abtun, malt die Gegenseite ein Horrorszenario an die Wand. Die Wahrheit wird irgendwo dazwischen liegen. Das Land ist polarisiert, Großbritannien hat seine Mitte verloren.
100.000 neue Jobs im ersten Quartal 2019
Noch ist das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union. Doch der Brexit wirkt sich bereits auf die Wirtschaft des Landes aus: Im zweiten Quartal dieses Jahres sank die Wirtschaftsleistung um 1,2 Prozent - das erste Mal seit sechs Jahren. Ursache sind die Unsicherheiten vor dem EU-Austritt und die Schließung von Autofabriken - allein die Produktion verbuchte ein Minus von 1,4 Prozent. Schrumpft die Wirtschaft auch im darauffolgenden Quartal, spricht man von Rezession.