Umso mehr überrascht es, dass immer wieder Jubelmeldungen aus Großbritannien kommen: Die Gehälter steigen, die Arbeitslosenrate ist auf ein Rekordtief gefallen. Rund 100.000 Jobs wurden allein im ersten Quartal geschaffen - der Arbeitsmarkt scheint der wirtschaftlichen Unsicherheit zu trotzen. Die Tories sind wahnsinnig stolz auf Rekordbeschäftigung und Lohnanstieg. An ihrer Politik liegt das aber nicht.

Christian Kesberg, Delegierter der Wirtschaftskammer in London, hat eine andere Erklärung: "In einer Phase der erhöhten prekären Unsicherheit investieren die Firmen nicht in Maschinen, sondern in Arbeitskräfte", sagt er. Immerhin sei eine Maschine ein Kapitalgut, "das ich nicht mehr loswerde", während man Menschen jederzeit entlassen könne. Und wo es einen Mangel an Fachkräften gibt, steigen automatisch auch die Löhne. Die Wirtschaft Großbritanniens werde vom Konsum getrieben, die betrieblichen Investitionen stiegen aber nicht. Kesberg weiß auch, wieso Großbritanniens Wirtschaft noch im ersten Quartal um 0,5 Prozent gewachsen ist: "Das erklärt sich durch den erhöhten Handel, weil sich alle dachten, am 31. März ist Schluss."

Laut der unabhängigen Denkfabrik National Institute for Social and Economic Research (Niesr) wird das Wirtschaftswachstum in Großbritannien heuer insgesamt ein Prozent ausmachen. Für 2020 prognostiziert das Institut kein Wachstum. In diesem Szenario rechnet Niesr mit einer Inflationsrate von mehr als vier Prozent. Das Pfund würde weiter fallen, die Arbeitslosenrate steigen. "Ein No-Deal-Brexit wird keine Wirtschaftskrise wie die Finanzkrise vor zehn Jahren auslösen", sagt Niesr-Makroökonom Arno Hantzsche. "Aber er wird die Wirtschaft dämpfen und das Wachstum in Großbritannien bremsen."

Niesr geht davon aus, dass bei einem EU-Austritt ohne Abkommen kurzfristige Notfallmaßnahmen greifen. Hantzsche: "In den ersten Jahren wird es Ausnahmeregelungen geben, der Handel wird nicht versiegen." Dieses "geordnete No-Deal-Szenario" würde den Schaden begrenzen und den Schock etwas abfedern. Allerdings muss die EU die Regeln des Binnenmarkts einhalten, um ihre Wirtschaft zu schützen - und Zölle auf Produkte aus dem Vereinigten Königreich einführen. Das führt unweigerlich dazu, dass Produkte teurer werden.

Zudem können dann einige Dienstleistungen nicht mehr angeboten werden. Das betrifft etwa Banken und Beratungsfirmen mit Sitz in London, die mit dem Brexit ihren Zugang zum europäischen Markt verlieren. Hantzsche: "Der bilaterale Handel wird weniger. Das kann man in den ersten Jahren durch Ausnahmen abfedern, aber nicht langfristig." Für die zehn Jahre nach dem Brexit rechnet Niesr damit, dass die britische Wirtschaft um fünf bis sechs Prozent schrumpft. Für die EU prognostiziert die Denkfabrik einen Verlust von 0,3 bis 0,4 Prozent. Das Münchner Ifo-Institut sieht übrigens das EU-Mitglied Irland am stärksten vom Brexit betroffen: Das Wohlstandsniveau dort würde voraussichtlich um 8,16 Prozent fallen.