Zum Hauptinhalt springen

Ex-EZB-Chef Trichet: "Wir müssen sehr wachsam sein"

Von Konstanze Walther

Wirtschaft

Als EZB-Chef bekleidete Jean-Claude Trichet acht Jahre lang das mächtigste Amt der europäischen Finanzwelt. Nun sorgt sich der 76-Jährige um die schwache Lohnentwicklung in den Industrieländern und die hohe Verschuldung.


"Wiener Zeitung": Sie waren von 2003 bis 2011 Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB). Die Finanzkrise hat 2007 begonnen, weil die Hypothekenblase in den USA geplatzt ist. Was hat Sie damals am meisten überrascht?

Jean-Claude Trichet: Schon in den Jahren vor Ausbruch der Krise, 2006 und in der ersten Jahreshälfte 2007, haben einige Notenbanker und auch einige CEOs kommerzieller Banken beobachtet, dass der Markt das Volumen der akkumulierten Finanzrisiken und den Preis dieser Risiken unterbewertet hat. Als der Hypothekenmarkt zusammengebrochen ist, kann ich nicht sagen, dass mich das sehr überrascht hat. Ich beziehe mich da auf Diskussionen in Basel, insbesondere auf das Treffen der Notenbanken und das Treffen der Notenbanken mit dem privaten Sektor.

Als die Blase geplatzt ist, wirkte das wie eine unaufhaltsame Schockwelle, die den gesamten Finanzmarkt erschüttert.

In hektischen Zeiten arbeitet der Markt überwiegend binär. Es gibt nur Ja oder Nein, rauf oder runter. Eine reibungslose, dauerhafte und angemessene Entwicklung der Marktpreise funktioniert nicht mehr. Deswegen musste damals in Europa die erste mutige, unkonventionelle Entscheidung von der Zentralbank getroffen werden. Am 9. August 2007 hat die EZB entschieden, dass die europäische Wirtschaft unbegrenzte Liquidität erhalten soll. Wir stellten damals 95 Milliarden Euro zur Verfügung. Die binäre Natur des Marktes war zu der Zeit sehr deutlich zu sehen. Trotzdem waren wir weiter im Marktabschwung. Dieses Phänomen wiederholte sich nach dem Crash der US-Investmentbank Lehman Brothers und bei der Staatsschuldenkrise. Die am meisten gefährdeten Euroländer wurden ohne Probleme vom Markt finanziert - bis zu einem plötzlichen Stop; die Finanzierung wurde dann quasi unmöglich. Das sind sehr kritische Situationen, die sehr schwer zu bewältigen sind. Die Zentralbanken und die zuständigen Behörden müssen alles tun, was sie können, um solche Situationen im Vorhinein zu verhindern und ein Maximum an Wachsamkeit und Kontrolle aufbieten, um mit dem umzugehen, was dann passieren kann.

Wir haben seit mehr als zehn Jahren niedrige Zinsen. Viele gehen davon aus, dass dieser Zustand noch zehn bis fünfzehn Jahre anhalten dürfte.

Es gibt unter Theoretikern die Tendenz, jeden Ist-Zustand für die Zukunft fortzuschreiben. Ich sehe keinen Grund, warum wir fortdauernd das gegenwärtige Niveau mit sehr niedriger Inflation und sehr niedrigem beziehungsweise negativem Zins haben werden. Das ist vorübergehend, denn niemand ist zufrieden damit. Aber natürlich müssen die Notenbanken tun, was sie tun müssen in Zeiten, in denen das plötzliche Auftreten eines Deflationsrisikos tatsächlich besteht. Aber ich hoffe, die anderen Partner in den entwickelten Industrieländern - der private Sektor, die Sozialpartner, die Regierungen und die Parlamente - werden alle ihre Verantwortung wahrnehmen und die Notenbanken mit der Bürde dieser ungewöhnlichen Situation nicht alleine lassen.

Wieso ist die Inflation in allen Industrieländern so niedrig? Die Zentralbanken betreiben ja weiterhin eine sehr expansive Geldpolitik, um wenigstens die Deflation zu verhindern.

Gute Frage. Bei einem Zentralbanker-Treffen im US-amerikanischen Jackson Hole wurde von Larry Summers (US-Ökonom Anm.) sogar die Theorie aufgeworfen, ob es am Ende ein bizarres schwarzes Loch gibt, das jede Inflationsbewegung verschluckt. Oder ist es etwas anderes? Ist es am Ende eine langfristige Stagnation der Wirtschaft? Ich glaube, dass ein Grund von vielen ist, dass wir ein Problem mit der Entwicklung der Lohnstückkosten haben. Die Löhne steigen ungewöhnlich langsam in vielen Industrieländern - so etwa in Japan, in vielen Ländern Europas, so etwa in Deutschland und Österreich, den Niederlanden, der Schweiz; und in gewisser Weise auch in den USA. Selbst bei Vollbeschäftigung gibt es hier kaum einen Anstieg der Arbeitskosten und daraus resultierend eine ungewöhnlich niedrige Inflation. Es wäre wichtig, dass die öffentliche Meinung sich des Umstandes bewusst wird, dass die Sozialpartner auch eine sehr wichtige Rolle in der aktuellen Funktionsweise der Industrieländer und bei den schwierigen Sachverhalten haben, mit denen sich die Zentralbanken beschäftigen.

Also brauchen wir höhere Löhne in Österreich, Deutschland, Japan?

Und in den USA. In allen Ländern mit Vollbeschäftigung braucht es einen dynamischen Anstieg der Löhne - so wie das bisher ja auch war und auf Linie mit der zweiprozentigen Erhöhung der Preise, was ja erklärtes Ziel der Zentralbanken aller Industrieländer ist. Natürlich muss es auf eine koordinierte Art und Weise erfolgen, um Verwerfungen zwischen den Volkswirtschaften zu vermeiden. Man darf dabei die Wettbewerbsfähigkeit nicht außer Acht lassen.

Steuern wir auf die nächste große Krise zu?

Ich prognostiziere nicht die Art von Krise, die wir in der Vergangenheit hatten. Ich sage nur, dass wir sehr wachsam sein müssen, um eine systemische Krise zu verhindern. Ich glaube, wir haben noch viel Arbeit vor uns. Ein besorgniserregendes Element ist die hohe Verschuldungsrate. Wir wissen alle, dass die Hebelwirkung der Verschuldung eine Dimension der vorangegangenen Krise war. Und trotzdem haben wir die Verschuldungsrate auf globalem Niveau weiter angehoben - wenn auch nicht im selben Rhythmus wie vor der Krise, aber trotzdem substanziell. Das betrifft staatliche wie private Verschuldung. 2009 war der Höhepunkt der Verschuldung in der Krise. Doch seither ist die Verschuldung um 30 Prozent angestiegen. Wir sind gerade bei rund 320 Prozent Verschuldung, gemessen in Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Das ist viel höher als zur Zeit der Krise. Und viel höher als noch im Jahr 2000. Wir halten also weiterhin Risiken in unseren Volkswirtschaften. Das braucht erhöhte Wachsamkeit.

Sie sagen, dass die Zentralbanken nicht die einzigen Player sein können. Wo beginnt die Zusammenarbeit mit Regierungen, wo endet die Unabhängigkeit der Zentralbank?

Die Unabhängigkeit der Zentralbanken ist absolut fundamental. Aber Unabhängigkeit schließt nicht aus, dass man mit Regierungen oder Institutionen redet. Ganz im Gegenteil. Der Präsident der Euro-Gruppe und der EU-Kommissar für Währung sind eingeladen, bei allen Treffen des EZB-Rats dabei zu sein. Dafür ist auch der EZB-Präsident bei allen Sitzungen der Eurogruppe eingeladen. Der permanente Dialog ist wichtig. Aber das bedeutet nicht, dass die EZB nicht äußerst unabhängig ist. Das ist auch im Gründungsvertrag so geregelt.

Haben Sie das Gefühl, dass die Unabhängigkeit der US-Zentralbank Fed in Gefahr ist? US-Präsident Donald Trump schreibt ja gerne auf Twitter, dass Fed-Chef Jerome Powell endlich die Zinsen senken soll.

Offen gesagt glaube ich, dass, was auch immer Präsident Trump twittert, keinen Einfluss hat. Weder in der Wahrnehmung der Unabhängigkeit der Federal Reserve noch in ihren Entscheidungen. Powell muss diese Tweets von Trump ignorieren, und das tut er auch. Die Unabhängigkeit der Fed ist gesetzlich verankert und wird von dem Kongress überwacht.

Die US-Regierung hat einen Handelsstreit mit Europa und China begonnen. Wie wirkt sich der auf uns aus?

Europa ist beim Handelsstreit viel verwundbarer als die USA. Wir sind eine integrierte, vernetzte Volkswirtschaft. Wir sind doppelt so offen für internationalen Handel. Wir sind doppelt so verwoben in der globalen Wertschöpfung wie die USA. Das zeigt sich gerade in der Eurozone, wo es nun eine merkbare Verlangsamung der Konjunkturentwicklung gibt. Das ist sehr sichtbar in Deutschland oder Österreich - und in allen anderen Ländern, die offen für internationalen Handel sind. Wir haben in diesem Kampf gegen Protektionismus viel zu verlieren.