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"Wir fordern den EU-Reisepass"

Von Bernd Vasari aus Brüssel

Wirtschaft
"Europa als zweitkleinster Kontinent hat mit Abstand die meisten Staatsgrenzen", sagt Lambertz.
© Fred Guerdin

Karl-Heinz Lambertz, Präsident der EU-Regionen, über wertvolle Kenntnisse der neuen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und die unflexible Budget- und Grenzpolitik Österreichs.


Der Brexit ist das dominierende Thema, wenn es derzeit um die Europäische Union geht. Doch auch abseits des Brexits stehen wesentliche Richtungsentscheidungen an. Europas bekanntester Politiker Jean-Claude Juncker hat die Bühne in Brüssel verlassen, ihm folgt ab 1. November Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin nach. Zudem wird um die Verteilung der Mittel für das neue Budget 2021 bis 2027 gerungen.

Ein Drittel der Gelder stand bisher den Regionen zu Verfügung, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" besteht Regionen-Präsident Karl-Heinz Lambertz auch weiterhin auf diesen Anteil. Weiters kritisiert er Europas Kleinstaaterei, den Fetisch für Grenzkontrollen und spricht sich für mehr Zusammenhalt aus. Um die Gemeinsamkeit zu stärken, fordert er einen gemeinsamen Reisepass für EU-Bürger:

"Wiener Zeitung": Herr Lambertz, am 1. November tritt die neue EU-Kommission unter Präsidentin Ursula von der Leyen an. Haben Sie mit ihr schon gesprochen?

Karl-Heinz Lambertz: Ich hatte Ende vergangener Woche ein erstes Kennenlerngespräch mit von der Leyen. Wir sind aber noch in der Aufwärmphase. Die Entscheidungen des EU-Parlaments und des EU-Ministerrates über alle Kommissare sind noch nicht gefällt. Ich hoffe nicht, dass sich diese Entscheidungen lange hinziehen. Wir müssen uns schließlich um den nächsten Finanzrahmen (EU-Budget für 2021 bis 2027, Anm.) kümmern. Dabei kann es keine Einigung geben, so lange nicht alle Positionen besetzt sind.

Was erwarten Sie von von der Leyen in Hinblick auf die Regionen?

Wir erwarten eine Stärkung der Gebietskörperschaften, eine engere Zusammenarbeit. In ihrer Antrittsrede hat sie die Bedeutung der lokalen Ebenen hervorgehoben, das freut uns.

Ein zentraler Punkt in den Plänen von der Leyens ist der Klimaschutz. Innerhalb der ersten 100 Amtstage soll die Kommission bereits das erste Klimagesetz vorschlagen, mit der Verpflichtung, dass die Mitgliedsstaaten bis 2050 klimaneutral werden.

Das klingt toll. Sie wird aber die Regionen brauchen, wenn sie diesen Green Deal umsetzen will. Die EU kriegt etwa die Verkehrsproblematik nur in den Griff, wenn sich vor Ort etwas ändert. Der Ausbau des öffentlichen Verkehrs, Energiefragen im Wohnungsbau, das bestimmen die Regionen.

Der einflussreichste EU-Staat Deutschland verhält sich sehr defensiv, was den Klimaschutz betrifft. Kann von der Leyen die Rolle Brüssels in Berlin stärken?

Die Tatsache, dass von der Leyen aus Deutschland kommt, ist keine Garantie, dass Berlin jetzt nach ihrer Pfeife tanzt. Die Kenntnis von der Leyens von der deutschen Politik ist aber sehr wertvoll für die EU. Sie weiß, was sie tun muss, um Dinge in Berlin in Bewegung zu bringen. Doch es liegt nicht nur an Deutschland. Alle müssen sich in den Fragen des Klimaschutzes bewegen. Davon hängt die Zukunft der EU ab.

Green Deal, vielleicht auch der Aufbau eines EU-Militärs, der Wegfall von Nettozahler Großbritannien: Was bedeutet das für das Regionen-Budget? Laut Kommission soll es ohnehin schon um zehn Prozent gekürzt werden. Wo liegt die Schmerzgrenze?

Es muss investiert werden, um den Green Deal und die anderen Projekte, die von der Leyen vorschlägt, umzusetzen. Wenn die Österreicher nicht ein bisschen flexibler werden, dann wird es schwierig. Die Österreicher sind da ja sehr restriktiv, was den EU-Haushalt angeht. Man muss das immer wieder erwähnen, weil es zu wenige Menschen wissen: Die EU erhält nur ein Prozent des gesamten Bruttoinlandsproduktes (BIP) aller Mitgliedsstaaten. Mit dem Wegfall von Großbritannien wird der Gesamthaushalt kleiner und damit auch dieses eine Prozent.

Das Europäische Parlament verlangt einen Haushalt von 1,3 Prozent, die Kommission hat 1,1 Prozent vorgeschlagen. Was ist Ihre Forderung?

Wenn man über Europa und seine Zukunft spricht, dann ist es eine Frage, die man nur lösen kann, wenn man die eigenen Finanzmittel aufstockt. Wir schließen uns der Forderung des Europäischen Parlamentes an. Einige Staaten, wie Österreich, wollen nur 1,0 Prozent. Das ist definitiv zu wenig.

Welcher Anteil vom Gesamthaushalt soll an die Regionalpolitik, an die sogenannte Kohäsionspolitik, gehen?

Wir wollen ein Drittel der EU-Mittel, der Anteil wie er war, soll gleich bleiben.

Die EU-Kommission will die EU-Förderungen künftig an die Einhaltung der Defizitkriterien binden. Regionen, deren Staat zu viel ausgibt, sollen künftig nicht gefördert werden. Bremst sich Europa damit nicht selbst aus?

Wir sind dagegen, dass Regionen und Städte bestraft werden, wenn sich ihre nationale Regierung nicht an die Kriterien hält und ein größeres Budgetminus macht, als erlaubt. (Laut Stabilitäts- und Wachstumspakt müssen Staaten die Höhe ihres jährlichen Haushaltsdefizits auf drei Prozent ihres BIP den Stand ihrer öffentlichen Verschuldung auf 60 Prozent ihres BIPs begrenzen, Anm.)

Zuletzt haben Deutschland - Richtung Österreich, und Österreich - Richtung Slowenien und Ungarn, wieder Grenzkontrollen eingeführt. Sie wurden nun sogar verlängert, um vermeintliche "Schlepper" zu stoppen. Was halten Sie davon?

Davon halte ich überhaupt nichts. Es ist ohnehin schon schwierig: Europa ist der zweitkleinste Kontinent, aber derjenige, mit der - mit Abstand - höchsten Dichte an Staatsgrenzen. Die EU ist deshalb darauf aufgebaut diese Grenzen abzubauen, Mobilität zwischen den Mitgliedsstaaten zu schaffen. Wenn man das Thema der Sicherheit in Griff kriegen will, dann wäre der schlechteste Weg überall wieder Binnengrenzen aufzubauen. Im Gegenteil: Mit klassischen Grenzkontrollen werden die Probleme nur mehr. Dabei müsste die EU zusammenhalten, damit unser Stellenwert in der Welt wieder steigt, damit wir den Anschluss an China und die USA nicht verpassen.

Es gibt aber auch dort Hindernisse, wo die Grenzen innerhalb der EU offen sind. Laut Kommission würde der vollständige Abbau dieser Hindernisse zu einer Steigerung des BIP um acht Prozent führen. Wie ist das möglich?

Fahren Sie mal mit dem Zug von Brüssel nach Luxemburg. Dann merken Sie, was alles gemacht werden muss, damit es funktioniert. Das dauert unendlich lang, weil es nicht synchronisiert ist. Oder im Sozialbereich. Wenn Sie in einem Land arbeiten, aber in einem anderen leben, da könnte es mit den Steuern kompliziert werden.

Auch der Chef der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) Andreas Matthä beklagte sich zuletzt in der "Wiener Zeitung" über die Kleinstaaterei. Die ÖBB müsse etwa jede Lokomotive in jedem einzelnen EU-Land zulassen. Gibt es konkrete Pläne diese Probleme zu lösen?

Ja. Auf Initiative der luxemburgischen Präsidentschaft vor vier Jahren ist nun ein Gesetz in Vorbereitung, das grenzüberschreitende Probleme lösen soll. Demnach soll für bestimmte Bereiche, die Rechtsordnung eines Staates auf dem Gebiet des Nachbarstaates angewendet werden. Man kann aber nicht alles vereinheitlichen.

Es gibt noch immer den Ausdruck Lebensmittelpunkt. Ist dieser nicht ein Hindernis in einem gemeinsamen Europa?

Das hat steuerlich und im Sozialwesen eine konkrete Bedeutung. Das ist natürlich eine knifflige Frage, wenn ich in einem Land arbeite und in einem anderen Land wohne. Was geschieht mit mir in der Pension? Daran müssen wir arbeiten.

Braucht es ein gemeinsames europäisches Sozialsystem?

Das ist eine Mammutaufgabe, die aufgrund der gewachsenen Unterschiede auf absehbarer Zeit nicht machbar ist.

Wie wäre es mit einem Symbol, um diese gewachsenen Unterschiede schneller zu überwinden? Was halten Sie von einem europäischen Reisepass?

Das macht natürlich Sinn. Da bin ich dafür. Wir fordern einen EU-Reisepass.

Zur Person~Karl-Heinz Lambertz wurde im Juli 2017 zum Präsident des Europäischen Ausschusses der Regionen (AdR) gewählt AdR-Mitglied wurde der belgische Politiker bereits im Jahr 2001. Er war von 2011 bis 2015 Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Europas-Fraktion (SPE) im AdR.