Mario Draghi hat seine letzte Zinssitzung als EZB-Chef geleitet. In der Euro-Krise wurde der Italiener als finanzpolitischer Superheld gefeiert, danach stand er wegen seiner ultralockeren Geldpolitik zunehmend in der Kritik.
Seine letzte Zinssitzung dürfte Mario Draghi wohl als so etwas wie eine Kurzzusammenfassung seiner Zeit an der Spitze der Europäischen Zentralbank (EZB) empfunden haben. Und das nicht nur deshalb, weil der mittlerweile 72-jährige Italiener in den vergangenen Jahren im Frankfurter EZB-Tower dutzende dieser Abstimmungstreffen mit den nationalen Notenbankgouverneuren absolviert hat, um sich im Anschluss daran bei der Pressekonferenz den Fragen der Journalisten zu stellen.
Auch inhaltlich und atmosphärisch ist an diesem Donnerstag kaum etwas anders als sonst. Wie schon so oft in der jüngeren Vergangenheit muss sich Draghi erklären, seinen Kurs verteidigen und vor allem die Wogen glätten. Denn die im September gegen den ausdrücklichen Willen von Frankreich, Österreich und den Niederlanden getroffene Entscheidung, zum Abschluss seiner Amtszeit mit der Wiederaufnahme des umstrittenen Anleihenkaufprogramms nochmals ein geldpolitisches Feuerwerk zu zünden, hallt auch noch einen Monat später nach.
Kritik und Vorbehalte gibt es freilich auch schon, als der ehemalige Goldman-Sachs-Banker am 1. November 2011 den Franzosen Jean-Claude Trichet als EZB-Präsident ablöst. "Mamma mia", stöhnt die deutsche "Bild"-Zeitung. "Bei den Italienern gehört Inflation zum Leben wie Tomatensauce zur Pasta!" Doch von Inflation ist schon sechs Monate nach dem Amtsantritts Draghis ohnehin nicht mehr die Rede. Im Sommer 2012 steht in Europa nämlich alles auf der Kippe. Denn zu diesem Zeitpunkt spekulieren Investoren bereits im großen Stil gegen den Euro und treiben damit die Zinsen für die ohnehin schon schwer angeschlagenen europäischen Krisenländer weiter in die Höhe. Und mit Spanien und Italien schaffen es auch zwei zentrale Euro-Staaten nicht mehr, die Anleger davon zu überzeugen, ihnen zu vertretbaren Konditionen Geld zu borgen. Dass der Euro in jener Zeit, als bereits überall Notfallpläne für den totalen Zusammenbruch der Gemeinschaftswährung kursierten, nicht tatsächlich kollabiert ist, ist vor allem Draghi zu verdanken. Mit der mittlerweile berühmt gewordenen Ankündigung, die EZB werde "alles, was nötig ist" tun, um den Euro zu retten, dämmt der ehemalige Jesuiten-Schüler die Spekulationen gegen die EU-Krisenländer fast schon in der Stunde ein.
Als Einziger entschlossen
Zurückgezuckt haben die Märkte aber nicht nur wegen der enormen finanziellen Feuerkraft der zweitgrößten Notenbank der Welt. Anders als die zaudernde Politik vermittelt Draghi in diesen entscheidenden Stunden auch eine bedingungslose Entschlossenheit im Kampf für die gemeinsame Währung. "Während der Euro-Krise ist die EZB vielleicht der wichtigste, wenn nicht manchmal sogar der einzige wahre europäische Akteur gewesen", sagt Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der niederländischen Großbank ING. "Ohne die EZB gäbe es den Euro in seiner jetzigen Form wohl nicht mehr."
Dass Draghi mit seinem beherzten Einschreiten die Eurozone in der tiefsten Krise ihrer jungen Geschichte stabilisiert hat, gestehen ihm auch seine Kritiker zu. Doch je mehr sich die Situation in den Euro-Krisenländern beruhigt, umso mehr kommt der EZB-Präsident unter Beschuss. Denn im Kampf gegen die niedrigen Inflationsraten und die schwache Konjunkturentwicklung weitet Draghi seine ultralockere Geldpolitik sukzessive aus. In nur drei Jahren senkt die EZB den Leitzins fünf Mal, bis er schließlich im März 2016 bei null Prozent steht.
Daneben führt Draghi Strafzinsen für Geschäftsbanken ein, die ihr überschüssiges Geld bei der EZB bunkern, und legt ein gigantisches Anleihenkaufprogramm auf, mit dessen Hilfe innerhalb von knapp drei Jahren rund 2,6 Billionen Euro in die Märkte gepumpt werden.
Dauerkritik aus Deutschland
Widerstand gegen die Maßnahmen, mit denen Draghi unter anderem die Banken zu einer verstärkten Kreditvergabe bewegen will, kommt in diesem Zusammenhang vor allem aus Deutschland, wo sich nicht nur Bundesbankpräsident Jens Weidmann, sondern auch zahlreiche namhafte Ökonomen immer wieder für einen Ausstieg aus der ultralockeren Geldpolitik aussprechen. Im Vordergrund geht es dabei zumeist um die Sorge vor einer gefährlichen Blasenbildung auf den Immobilien- und Finanzmärkten durch das billige EZB-Geld oder den ohnehin schon margenschwachen deutschen Banksektor, der sich durch die Niedrigzinsen seiner Erträge beraubt sieht. Im Hintergrund schwingt aber ebenso immer wieder die Befürchtung mit, dass der Reformeifer in den südlichen Ländern nachlässt, wenn strukturelle Probleme einfach durch billige neue Kredite entschärft werden können.
Von der Dauerkritik aus Deutschland zeigt sich Draghi allerdings unbeeindruckt. "Unsere Geldpolitik war erfolgreich", erklärt er etwa im Sommer 2017. Und im Juni 2019 resümiert Draghi - wie so oft mit stoischer Miene -, die EZB habe in schwierigen Zeiten bewiesen, wie flexibel sie handeln könne. In jedem Fall gelingt es Draghi aber, Fakten zu schaffen, die teils auch noch weit über das Ende seiner Amtszeit hinausreichen. So legt sich die EZB bei Draghis letzter Zinssitzung darauf fest, dass sie die Geldschleusen noch für längere Zeit offen halten wird. Wenn Christine Lagarde am 1. November als EZB-Präsidentin übernimmt, wird sie zunächst also einmal in Draghis Fahrwasser steuern.
Der Nullzins bleibt~ Europas Währungshüter haben zum Ende der Amtszeit von Mario Draghi den ultralockeren Kurs bekräftigt. Der Leitzins bleibt unverändert bei 0,0 Prozent, Banken müssen zudem weiter 0,5 Prozent Negativzinsen zahlen, wenn sie Gelder bei der EZB parken. Zudem will die Notenbank von November an auf unbestimmte Zeit monatlich 20 Milliarden Euro in den Erwerb von Anleihen stecken.