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Von gewählten Chefs und neuen Netzen

Von Judith Belfkih

Wirtschaft

Gegen Digitalisierung zu wettern war gestern. Eine neue Generation dreht den Spieß nun um. Wie die Ökonomin und Philosophin Lisa Herzog fragt sie sich, wie neue Techniken Arbeitswelten besser, fairer und humaner machen können.


Gewählte Konzern-Chefs und Firmen, die als partizipative Genossenschaften organisiert sind. Die zentrale Forderung der Philosophin Lisa Herzog ist klar: Wenn Wirtschaft immer mehr in die demokratischen Systeme hineinwandert, ja sie vielleicht sogar unterwandert, so muss im Gegenzug das System Wirtschaft mit demokratischem Rüstzeug ausgestattet sein. Für ihre auch in Buchform vorliegenden Überlegungen dazu, wieso wir lieber "Die Rettung der Arbeit" statt deren Ende feiern sollten, wurde die 35-jährige Professorin diesen Herbst bereits mit zwei hochdotierten Philosophie-Preisen ausgezeichnet. Am Rande des Philsophicum Lech konkretisierte Lisa Herzog ihre Ideen und sprach mit der "Wiener Zeitung" über geteilte Macht, den neuen Kampf um alte Arbeitsrechte und das Comeback einer praktisch orientierten Philosophie.

"Wiener Zeitung": Warum setzen Sie sich für die Rettung der Arbeit ein, anstatt darüber nachzudenken, was man nach ihrem Ende machen könnte?Lisa Herzog: Ziel dahinter ist es, gute Arbeit in Zukunft für alle Mitglieder der Gesellschaft verfügbar zu machen. Erst die Lohnarbeit abzuschaffen und dann ein alternatives Szenario sinnvoller Tätigkeiten zu schaffen - diesen Weg sehe ich nicht. Menschen würden auch nach dem Ende der Lohnarbeit weiter arbeiten, wenn auch in anderen Formen. Aber das ist sehr weit entfernt von dem, was wir heute kennen. Daher ist es naheliegend, von hier und heute aus mit dieser Transformation zu beginnen. Mein Ansatz ist daher: Lasst uns das, was heute als Lohnarbeit organisiert ist, besser, fairer und menschlicher gestalten.

Geld zu verdienen oder sich selbst zu verwirklichen, sehen Sie dabei nicht als zentrale Motivation von Arbeit. Was dann?

Faire Bezahlung wird immer Thema bleiben. Doch Menschen arbeiten auch, weil sie Sinn darin empfinden und in sozialen Zusammenhängen mit und für andere arbeiten wollen. Wenn Arbeit menschlich organisiert wird, lassen sich darin sehr positive Formen von Gemeinschaft erleben. Dieser soziale Aspekt scheint mir zentral. Er wurde in den vergangenen Jahrzehnten oft vernachlässigt, das hat sich in der Praxis auch bemerkbar gemacht.

Positionieren Sie sich aufgrund dieses sozialen Faktors auch gegen das bedingungslose Grundeinkommen?

Es könnte Teil eines Gesamtpaketes sein. Allein ist es nicht hinreichend. Den Leuten zu sagen: "Hier ist Geld, ihr könnt aus der Arbeitswelt aussteigen!" - damit haben sie noch nicht die Möglichkeit, die Arbeitswelt mitzugestalten, sich aktiv als Teil einer sozialen Gemeinschaft zu erleben. Ein mögliches Grundeinkommen für alle müsste also jedenfalls von anderen Maßnahmen in der Arbeitswelt begleitet werden.

Zwangspausen, keine Toilettenpausen und prekäre Verträge: In manchen Branchen gewinnt man den Eindruck, die Digitalisierung hebelt hundert Jahre Kampf um Arbeitsrechte aus. Wie konnte das passieren?

Dafür haben drei Jahrzehnte marktliberales Denken den Boden bereitet. Digitalisierung scheint zu versprechen, dass jeder Einzelne emanzipiert und selbstbestimmt lebt und arbeitet. Diese Individualisierung steht in einem krassen Widerspruch zu der Tatsache, dass wir verwundbar sind, dass wir uns gemeinschaftlich für unsere Interessen einsetzen müssen, weil uns sonst die Kapitalseite gegeneinander ausspielen kann.

Wer steckt heute hinter dieser Kapitalseite, dem angeblich alles bestimmenden freien Markt?

Es sind zunehmend die Interessen großer Technologiekonzerne. Der Markt mit Angebot und Nachfrage alleine ist es schon lange nicht mehr, war es wohl auch nie. In digitalen Ökonomien sieht man sehr starke Netzwerkeffekte und eine Tendenz zur Monopolbildung, die die Politik auch sang- und klanglos hingenommen hat. Damit fällt das Argument weg, dass sich Firmen bemühen müssten, gute Arbeitnehmer zu finden - wenn es eben nur noch wenige Arbeitgeber gibt, die vielleicht auch noch untereinander die Arbeitsbedingungen absprechen. Für bestimmte hochqualifizierte Stellen gibt es nach wie vor sehr gute Bedingungen. Aber für die Masse der Bevölkerung ist die Entwicklung besorgniserregend.

Gerade, um systemerhaltende Arbeit mit weniger Qualifikation aufzuwerten, setzen Sie auf fairere Wertschätzung von Arbeit. Wie soll das funktionieren? Über einen Einheitslohn?

Geld spielt sicher eine wichtige Rolle. Aber meines Erachtens sollten die Lohnunterschiede wesentlich geringer sein. Zudem geht es um Anerkennung. Eine moderne arbeitsteilige Gesellschaft hängt von all den unterschiedlichen Tätigkeiten ab. Da sind nicht manche wertvoller, es braucht sie alle, damit die Gesellschaft funktioniert. Natürlich geht es da auch um Geld, auch um öffentliches Geld - etwa bei Gehältern im Öffentlichen Dienst. Aber es geht auch um ein bewusstes Konsumverhalten. Muss es immer das billigste Angebot sein? Wenn transparent wäre, ob eine Ware oder Dienstleistung unter fairen Arbeitsbedingungen hergestellt wird, könnten sowohl Politik als auch Konsumenten hier bewusst gegen prekäre Verhältnisse steuern. Da entstehen im Moment schon die ersten Labels. Hier könnte Digitalisierung durch mehr Information gute Dienste leisten. Wenn ich sicher sein kann, hier ist mein Geld in gute Arbeit investiert, dann wären viele Menschen sicher bereit, mehr Geld zu zahlen.

Inwieweit könnte die von Ihnen geforderte Demokratisierung von Wirtschaft hier helfen?

Die grundsätzliche Idee ist: Diejenigen, die Macht über andere haben im wirtschaftlichen System, sollten sich für diese Macht auch zur Verantwortung ziehen lassen müssen - etwa, indem sie gewählt werden. Wir akzeptieren das im politischen System ja auch, dass sich Führungspersönlichkeiten der Öffentlichkeit stellen müssen. Ohne Hierarchien wird es auch in der Wirtschaft nicht funktionieren, Arbeit lässt sich nicht nur in Netzwerken und Schwärmen organisieren. Aber diese Strukturen können demokratisch gebildet werden.

Birgt der gewählte Chef nicht die Gefahr populistischer Wahlversprechen oder Bestechungen? Ist der beste Chef für die Mitarbeiter auch der beste für das Unternehmen?

Leute würden das schnell durchschauen. Ihnen ist klar, dass eine Firma langfristig überleben muss, damit sie ihre Jobs behalten. Den Leuten geht es um bessere Arbeitsbedingungen, nicht um den Freibrief zum Faulenzen. Die Bedenken sind berechtigt, wir sehen die Schattenseiten ja auch in den aktuellen politischen demokratischen Systemen. Demokratie ist aber auch hier immer noch das am besten geeignete Instrumentarium, um Machtmissbrauch zu verhindern. Vielleicht würde sich in vielen Firmen kurzfristig nichts verändern. Doch gegen Chefs, die Arbeitsbedingungen massiv verschlechtern, könnte damit vorgegangen werden.

Wer sollte Interesse an dieser Veränderung haben? Welcher Firmenchef wäre an Machtverlust und der Teilung von Gestaltung interessiert?

Irgendwann akzeptieren Menschen immer schärfere Ungleichheiten nicht, also die Konzentration von Macht und Vermögen in sehr wenigen Händen. Dann kommt es möglicherweise zu einem Erdrutsch, zur Notwendigkeit, etwas zu ändern. Aber es gibt auch jetzt schon neue Modelle, Firmen, die alternative Wege ausprobieren. Hier könnten sich praktikable Modelle und Systeme herausbilden, die irgendwann auch gesetzlich verpflichtend werden könnten.

Das klingt nach einem sehr optimistischen, wenn nicht naiven Szenario.

Die Frage ist doch: Wohin sollte sich unsere Arbeitswelt entwickeln? Planwirtschaft hat sich nicht bewährt, der entfesselte Kapitalismus zeigt gerade seine Schattenseiten. Es geht darum, Wege zu finden, Arbeitswelten menschlicher und fairer zu gestalten. Natürlich ist es enorm wichtig, dass es staatliche Regelungen gibt, die Wirtschaft einhegen. Aber ebenso bedeutsam scheint mir, innerhalb von Unternehmen eine Gegenmacht zu starr hierarchischen Strukturen zu schaffen. Das ist der Ansatz von Wirtschaftsdemokratie, die Menschen, die davon betroffen sind, zu befähigen, Arbeitswelten aktiv mitzugestalten.

Aktuell beobachten wir eher das Gegenteil: Wirtschaftliche Interessen unterwandern demokratische Systeme. Soll die Idee der Wirtschaftsdemokratie, diesen Mechanismus umzukehren und umgekehrt sogar Demokratie - auch in der Politik - stärken?

Skeptiker würden sagen, die Probleme der Demokratie handeln wir uns dann überall ein. Aber ja, das ist natürlich eine der Grundideen, demokratisches Mitgestalten auf allen Ebenen einzuüben und damit zu stärken.

Philosophinnen und Philosophen wagen sich wieder an ganz praktische lebensweltliche Fragen. Keimt hier eine neue, lebensnahe Relevanz der Philosophie, die doch lange um sich selbst gekreist ist?

Umwälzungen in der Gesellschaft werfen grundsätzliche Fragen auf. Mit ihnen ist das Bedürfnis der Auseinandersetzung mit Werten und den Prinzipien, die da dahinterstehen, wieder größer geworden. Dieses Gefühl, am Ende der Geschichte mit zufriedenstellenden Modellen angekommen zu sein, das noch in den 90er Jahren dominiert hat, das findet sich heute kaum noch. Von der Klimapolitik bis zu Finanzkrisen: Es ist fast allen klar, dass sich etwas ändern muss. Damit ist die Nachfrage nach Reflexion gestiegen. Aber auch in der Philosophie hat sich einiges getan. Auch an den Universitäten gehen viele Leute weg vom Ausdeuten bestehender Systeme - und hin zu den realen Problemen der Welt. Die Philosophie bietet da hervorragende Methoden und Werkzeuge, gerade in Zusammenarbeit mit den Sozialwissenschaften. Hinausgehen und Feldforschung zu machen, das ist auch in der Philosophie nicht mehr völlig verpönt.