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Griechische Abrechnung

Von WZ-Korrespondent Ferry Batzoglou aus Athen

Wirtschaft

Sie kam vor zehn Jahren in die Schlagzeilen: die Causa Hellas. Auf Kredite und streng kontrollierte Sparauflagen für das tief verschuldete Land folgte ein kolossaler Wirtschaftseinbruch. Eine nicht nur griechische Zehn-Jahresbilanz mit Ausblick.


Nur gut ein Jahr nach der fatalen Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers, deren spektakulärer Zusammenbruch eine globale Finanzkrise auslöste, trieb das volkswirtschaftlich kaum ins Gewicht fallende Griechenland Ende 2009 plötzlich Regierungschefs, Zentralbankern und Top-Managern im Rest des Euroraums Sorgenfalten auf die Stirn. Schaute man zuvor mit Bangen nach New York, rückte auf einmal Athen in den Fokus.

Was folgte, ist bekannt: Im Gegenzug für die Bereitstellung von Krediten von kumuliert 277,6 Milliarden Euro ab Mitte 2010 bis August 2018 hatten auf Geheiß der neuen, öffentlichen Griechenland-Gläubiger Europäische Union (EU), Europäische Zentralbank (EZB) und Internationaler Währungsfonds (IWF) die griechische Regierung rigorose Sparauflagen durch Athens Parlament durchzupeitschen und umzusetzen.

Die Griechen hatten buchstäblich jeden Kredit verspielt: Faktisch unterlag Athen fortan der europäischen Zwangsverwaltung. Wütende Proteste der einheimischen Bevölkerung hin, die Abwahl von mehreren Athener Regierungen und ein Referendum mit einem schnell verpufften Sieg der Spargegner: die Hellenen spurten. So viel wie die Griechen sparte keiner in Europa. Hatte das griechische Staatsdefizit im Gruseljahr 2009 eine Rekordmarke von 15,1 Prozent erreicht, drehte es ab 2016 ins Plus. Darin ist auch der Schuldendienst inkludiert. Eine Herkulesleistung.

Rechnet man den Schuldendienst heraus, erwirtschaftet Hellas ab 2016 kontinuierlich einen primären Haushaltsüberschuss von sogar über 3,5 Prozent (2016: plus 3,6 Prozent/2017: plus 3,9 Prozent/2018: plus 4,3 Prozent). Auch heuer wird das so sein. Die Griechen sind nun Musterschüler im Sparen.

Die Schattenseite dieses Sparkurses war der kolossale Wirtschaftseinbruch. Hellas‘ Wirtschaftsleistung sank bis 2013 um ein Viertel. Massenarbeitslosigkeit und Massenarmut entwickelten sich rasch. Wer konnte, der machte sich aus dem Staub, um der Großen Depression auf Griechisch zu entkommen.

Raus aus dem Rettungsschirm

Zwar schlüpfte Griechenland am 20. August 2018 wieder aus dem Euro-Rettungsschirm. Doch die Griechen rappeln sich erst allmählich wieder auf - und dies von einem deutlichen niedrigeren Niveau. Erst Anfang 2030er Jahre wird das Euro-Sorgenkind wieder ein BIP mit Vor-Krisen-Niveau erreicht haben, rechnen Experten vor. Falls alles gut geht.

Doch wie sieht es zehn Jahre nach dem Beinahe-Crash in Sachen Staatsschuld aus? Droht irgendwann erneut ein Zahlungsausfall in Athen? Ist ein neues griechisches Drama zu befürchten?

Was gerne unter den Teppich gekehrt wird: Zu Beginn der Griechenlandkrise 2010 rettete man erst einmal primär die ausländischen Geschäftsbanken, die im Vorfeld oder nach der Euro-Einführung in Griechenland Anfang 2002 dem Staat Unsummen geliehen hatten. Aus purer Profitgier.

Denn die Hellas-Bonds hatten den Geldinstituten kontinuierlich etwas höhere Zinsen beschert. Der Risikoaufschlag für den zehnjährigen Hellas-Bond im Vergleich zur entsprechenden deutschen Staatsanleihe, belief sich damals im Schnitt auf 1 bis 2 Prozent.

Nicht viel, möchte man meinen. Je mehr die Großbanken den Griechen liehen, desto mehr verdienten sie daran. Und sie taten dies gerne und im großen Stil. Laut der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) waren Griechenlands größte Gläubiger im dritten Quartal 2009 die Geldinstitute Frankreichs (mit 75 Milliarden US-Dollar), Schweizer Banken (64 Milliarden USD) und deutsche Banken (43 Milliarden USD). Im lukrativen Griechenland-Geschäft engagiert waren ferner Banken aus den USA (16,4 Milliarden USD), Großbritannien (12,3 Milliarden USD), den Niederlanden (12 Milliarden USD) sowie Portugal (10,3 Milliarden USD). Daraus ergibt sich ein Gesamtbetrag von 233 Milliarden US-Dollar, damals waren das umgerechnet rund 160 Milliarden Euro.

Griechenlands Staatsschuld betrug per Ende 2009 exakt 298,52 Milliarden Euro. Folglich hielten die privaten Banken allein aus den obigen sieben Ländern just zu jenem Zeitpunkt mehr als die Hälfte der griechischen Staatsschuld. Mit den Krediten aus Brüssel, Frankfurt und Washington wurden zunächst jene Geschäftsbanken gerettet. Das Credo: Griechenland musste seine Schulden im Ausland bedienen, weil es sonst als Schutz vor seinen Gläubigern den Staatsbankrott hätte erklären müssen. Genau dies wollte im Rest Europas niemand so kurz nach der Lehman-Pleite.

Griechische Staatsschuld ist gestiegen

So flossen die Kredittranchen der frischgebackenen öffentlichen Gläubiger Griechenlands zwar zuerst nach Athen. Die Gelder überwies Athen aber unverzüglich auf die Konten der privaten Gläubiger. In Hellas blieb so gut wie nichts. So waren vor allem Europas Großbanken schnell aus dem Schneider. Sie entledigten sich im Eiltempo der plötzlich nicht mehr renditestarken, sondern toxischen Hellas-Bonds.

Nicht mehr hauptsächlich private Gläubiger halten seither die griechische Staatsschuld, sondern maßgeblich öffentliche Kreditgeber wie die EU und die EZB. Das ist bis heute so.

Heute beläuft sich die griechische Staatsschuld auf 353,85 Milliarden Euro (per Ende September 2019). Das sind nominal sogar 55 Milliarden Euro mehr als Ende 2009. Betrug die griechische Staatsschuld gemessen an Hellas‘ jährlicher Wirtschaftsleistung 2009 noch 126,7 Prozent, ist sie 2018 zudem auf 181,2 Prozent gestiegen. Dies liegt zwar maßgeblich an der eingebrochenen Wirtschaftsleistung. Weltweit hat nur Japan eine höhere Staatsschuldenquote als Griechenland.

Der Grund dafür ist, dass Griechenland seinen Schuldendienst mit Krediten refinanzierte, die einen Zins im Plusbereich haben. Die simple Arithmetik: Gut für die Gläubiger, ein Minusgeschäft für den Schuldner.

Rücklagen in Hellas-Bonds

Dass Griechenlands Staatsschuld weiter gewachsen ist, hat auch nicht der größte Schuldenschnitt der globalen Finanzgeschichte verhindert. Im Frühjahr 2012 erfolgte der sogenannte PSI (Private Sector Involvement, Anm.). Er betraf verbliebene private Griechenland-Gläubiger wie US-Hedgefonds, aber auch griechische Sozialkassen, öffentliche Krankenhäuser und Universitäten. Letztere waren per Gesetz dazu verpflichtet, ihre Rücklagen in vermeintlich risikoarme Hellas-Bonds anzulegen.

Der griechische Staat lud die Inhaber von Hellas-Bonds im Nennwert von insgesamt 205,5 Milliarden Euro dazu ein, ihnen einen Anteil von 53,5 Prozent des Nennbetrages zu bezahlen. Die privaten Gläubiger hatten im Gegenzug auf die restlichen 46,5 Prozent zu verzichten. Inhaber von Hellas-Bonds im Nennwert von 198 Milliarden Euro nahmen das Angebot fristgerecht an. Die Angst davor, später ihr ganzes Geld zu verlieren, trieb sie dazu an. Hellas‘ Staatsschuld verringerte sich auf einen Schlag um 107 Milliarden Euro. Für die ohnehin miserable Bonität der Hellas-Bonds war dies aber ein weiterer Nackenschlag. Denn den PSI stuften die Ratingagenturen als Default (Zahlungsausfall) ein.

Unbestritten der größte Gewinn für Athens Finanzminister zehn Jahre nach Krisenausbruch ist jedenfalls, dass sich das Profil der griechischen Staatsschuld signifikant verbessert hat.

Erstens hat sich die durchschnittliche Restlaufzeit der Hellas-Bonds von 7,9 Jahren in 2009 drastisch auf aktuell 20,84 Jahre erhöht. Zum Vergleich: Österreichs Staatsanleihen haben im Schnitt eine Restlaufzeit von 10,1 Jahren.

Ferner ist die effektive Verzinsung für die Bedienung der griechischen Staatsschuld auf 1,75 Prozent gefallen. 2010 lag sie noch bei 4,06 Prozent. Drittens haben die Euro-Staaten mit den im Juni 2018 Griechenland gewährten Schuldenerleichterungen Zins- und Tilgungszahlungen bis 2032 ausgesetzt.

Gut für die Griechen. Bis 2070 hat der griechische Staat nur in sechs einzelnen Jahren für seinen Schuldendienst jeweils zwischen zehn und zwölf Milliarden Euro zu berappen. In den übrigen 44 der insgesamt 50 Jahre bis 2070 sind nur drei bis zehn Milliarden Euro pro Jahr fällig.

Negativzinsen trotz Ramsch-Status

Das dürfte Griechenland locker schultern, falls das Land auch nach dem Auslaufen der Kreditprogramme wie geplant in seinem engen Sparkorsett bleibt. Bis 2060 soll Athen im Haushalt einen Primärüberschuss von 2,2 Prozent erwirtschaften. Hinzu kommt, dass die Griechen für den Fall der Fälle Rücklagen für den Schuldendienst gebildet haben. Dieser "Cash Buffer" beläuft sich auf mehr als 30 Milliarden Euro. Damit ist Griechenland bis Ende 2022 durchfinanziert.

Derweil verdient Athen sogar mit der Begebung seiner Anleihen. Die Premiere war am 9. Oktober zu bestaunen, als die Griechische Schuldenagentur PDMA für einen sogenannten T-Bill (kurzfristige Staatsanleihen, Anm.) mit einer Laufzeit von drei Monaten mit einem Zins von - 0,02 Prozent 300 Millionen Euro kassierte.

Die Investoren rissen sich um das Hellas-Staatspapier, sie boten dafür eine Milliarde Euro an. Am 4. Dezember fiel für einen griechischen T-Bill mit diesmal sechs Monaten Laufzeit erneut ein Negativzins von - 0,02 Prozent an. Athen strich 812,5 Millionen Euro ein, um dafür in einem halben Jahr weniger zurückzuzahlen.

Gleichwohl will sich Griechenland im neuen Jahr wieder verstärkt über Staatsanleihen mit langen Laufzeiten am internationalen Kapitalmarkt finanzieren. Derzeit pendelt der Zinssatz dafür zwar um die historisch tiefe Marke von 1,5 Prozent. Er liegt aber immer noch deutlich im Plusbereich - im Gegensatz zu den Staatsanleihen vieler Euro-Länder.

Die Ratingagenturen stufen die Hellas-Bonds jedenfalls immer noch als Ramsch ein. Will heißen: ‚Hochspekulativ! Finger davon lassen!‘ Ungeachtet dessen sind die griechischen Papiere gefragt. Denn sie werfen noch etwas Geld ab. Wie schon vor Griechenlands Beinahe-Staatsbankrott vor genau zehn Jahren.