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Kritik der moralischen Ökonomie

Von Reinhard Heinisch

Wirtschaft

In der EU gibt es zu viele Lehrstücke über tugendhaftes Finanzgebaren. Sie halten eine wirtschaftspolitische Fiktion aufrecht - von der Finanzkrise bis zur Corona-Pandemie.


In der angelsächsischen Presse wird gerne darauf verwiesen, dass die beiden Begriffe "debt" und "guilt" im Deutschen jeweils mit "Schuld" übersetzt werden. Damit soll angedeutet werden, dass hierzulande Schuldenmachen nicht einfach eine wirtschaftspolitische Option ist, wobei allein die Frage im Vordergrund steht, was mit den Ausgaben finanziert wird, sondern eine prinzipielle moralische Frage.

Natürlich kennt auch die klassische ökonomische Theorie die Gefahr des "moral hazard", also ein Verhalten, bei dem jemand mit hohem wirtschaftlichem Risiko auf Gewinn setzt, dabei jedoch nicht dessen volle Kosten selber trägt. Doch bezieht sich dieser Begriff auf am Eigennutzen interessierte Akteure - und nicht auf die kulturelle Veranlagung ganzer Nationen. Der niederländische Finanzminister Wopke Hoekstra brachte es hierbei kürzlich genau auf den Punkt, indem er den südlichen Mitgliedsstaaten der EU quasi eine prinzipielle Unfähigkeit im Umgang mit Geld vorwarf.

Er setzte noch nach und empfahl speziell den Italienern, dass sie einfach mehr sparen hätten müssen, dann wären sie für Corona besser gerüstet gewesen. Die ebenfalls hier zur Fraktion der Hardliner zählenden Österreicher und Deutschen können noch froh sein, dass die ungeschickt agierenden Niederländer den Zorn der betroffenen Staaten und die internationale Medienschelte auf sich zogen.

"Südlicher Schlendrian"

Diskurse wie diese stoßen, nachdem sie jahrelang auf die gleiche Weise ablaufen, in Ländern wie Österreich und Deutschland auf breite Zustimmung, weil sie moralisch einleuchten. Dass in den Staaten des Südens seit der Finanzkrise Sparpaket auf Sparpaket folgte und unter anderem überwacht von der EU im Sozial- und Gesundheitsbereich massive Kürzungen vorgenommen wurden, darunter gerade auch die Reduktion von Spitalsbetten etwa in Spanien, wird im Diskurs im Norden kaum wahrgenommen.

Da liegen die vielfach strapazierten kulturpopulistischen Erklärungen des typischen südlichen Schlendrians und dolce far niente wesentlich näher. Es spielt dabei keine Rolle, dass Italien etwa ein Nettozahler der EU ist, was bei einer Straßenumfrage in Österreich wahrscheinlich kaum jemand glauben würde. Für Österreich ist Italien auch der zweitwichtigste Exportmarkt. So sticht auch die Irrationalität eines Diskurses ins Auge, der so tut, als wäre dies bloß eine Frage humanitärer und europäischer Solidarität, aber sonst nicht weiter mit dem eigenen Wohlergehen verknüpft. Es ist aber so, wie es die Ökonomen der Universität Amsterdam ihrem Finanzminister berichteten: Wenn Italien kollabiert oder aus dem Euro austritt, sind auch die Niederlande nicht mehr reich. So verblüfft die Bereitschaft, das europäische Gemeinschaftsprojekt und den eigenen Wohlstand zu gefährden, um einen Diskurs zu bedienen, der in weiten Teilen eine Fiktion ist.

Dies war bei der Finanzkrise vor zehn Jahren auch nicht anders. Anstatt exotischer Finanzinstrumente und spekulativer Machenschaften handelte es sich damals bei den griechischen, spanischen und italienischen Schulden um relativ konventionelle Staatsanleihen und bei den Investoren um Banken, Pensionskassen und Versicherungen (viele davon aus Mittel- und Nordeuropa), welche die Gelder ihrer Sparer und Beitragszahler sicher anzulegen suchten. Erst Diskussionen vor allem in Deutschland, die betroffenen Staaten eventuell bankrottgehen zu lassen, machten aus diesen biederen Papieren risikoreiche Veranlagungen, die für Spekulanten interessant wurden. Als deutsche Politiker laut darüber nachdachten, wo die europäische Solidarität aufhöre, schnellten im Süden die Risikozinsen und dann die staatlichen Schuldenlasten in die Höhe. Beispielsweise sprangen von März bis April 2010 die Zinsen für griechische Staatsanleihen von 3,9 auf 14,4 Prozent.

Politisches Feigenblatt

Bei einer rascheren Hilfe für Griechenland wäre der Finanzbedarf Athens wohl geringer ausgefallen. Man hätte somit eine Entschuldung wesentlich billiger haben können, wäre man nicht versucht gewesen, daraus ein moralisches Lehrstück über tugendhaftes Finanzgebaren zu machen.

Anstatt die Ursachen für wirtschaftliche Asymmetrie und die damit bestehenden Probleme in Konstruktionsfehlern bei der Schaffung der Währungsunion zu begreifen und hier im eigenen Interesse Abhilfe zu schaffen, ist es politisch vorteilhafter, den Diskurs vom faulen Süden und fleißigen Norden zu bedienen und folgende wirtschaftspolitische Fik- tion aufrechtzuerhalten. Laut dieser zahlen etwa die Griechen bis 2060 (!) über 300 Milliarden Euro an Hilfskrediten zurück.

Man kann dies angesichts der ökonomischen Sinnhaftigkeit dieser Zeitspanne auf zwei Arten interpretierten: entweder, dass der Schuldner mehr als ein halbes Jahrhundert für seine Sünden büßen muss, oder dass durch die lange Streckung der Kredite diese de facto nur noch auf dem Papier bestehen und bis in 40 Jahren alles Mögliche passieren kann. Dennoch schien dieses politische Feigenblatt notwendig, irgendwem verdeutlichen zu können, dass man damals hart geblieben sei.

Zum Diskurs im Norden zählen, wie erwähnt, der eigene Fleiß und die Tugendhaftigkeit. Weniger verliert man sich über die strukturellen Vorteile, die der Norden, vor allem Deutschland und sein wirtschaftliches Anhängsel Österreich, aus der Kons-truktion des Binnenmarktes haben. Das deutsche Modell "Exportweltmeister" ist nicht nur dem eigenen Fleiß, sondern auch dem rigiden deutschen Arbeitsmarkt, den vergleichsweise niedrigen Löhnen und der relativ hochregulierten Wirtschaft sowie dem viel zitierten Kultur- und Fortschrittspessimismus geschuldet, die den heimischen und deutschen Konsum so bremsen, dass ständig mehr produziert als konsumiert wird. Dies zwingt Deutschland zu einer Exportstrategie, will es Wohlstand und Arbeitsplätze sichern.

Anders formuliert, Deutschland bleibt um seiner selbst willen nichts anderes übrig, als seine Produktionsüberschüsse in die anderen Eurozonenstaaten zu exportieren. Damit sich die anderen das leisten können, müssen sie sich in einer gemeinsamen Währungs- und Wirtschaftsunion befinden, um nicht abwerten zu dürfen oder Handelsbarrieren zu errichten. Früher fuhr man in Ita-lien eben mehr Fiat als deutsche Edelmarken.

Die deutsche Wirtschaft profitierte gegenüber dem Rest der Welt außerdem davon, dass der Euro eine unterbewertete D-Mark repräsentiert und Exporte relativ zur Konkurrenz und im Vergleich zur DM-Zeit billiger wurden. De facto entsprach dies einer beträchtlichen jährlichen Subven-
tion für die deutsche Exportindustrie. Allein von 2000 bis 2013 gelang es Deutschland somit, einen kumulativen Handelsüberschuss im Verhältnis zum Rest der Eurozone von 1,3 Billionen Dollar zu erzielen. Dieser Effekt zugunsten Deutschlands wurde durch die Hartz-I- bis -IV-Reformen - also durch die Senkung der Lohnnebenkosten sowie durch Einsparungen und Steuererhöhungen - noch verstärkt.

Kein Finanzausgleich

Wäre die EU ein Bundesstaat, würde ein Teil dieser Gelder über den Finanzausgleich umverteilt werden. So müssen die Konkurrenzvorteile und Exporterfolge der Bundesrepublik innerhalb des Binnenmarkts anderswo Nachteile und Verluste nach sich ziehen. Zwar geht die Theorie des Freihandels davon aus, dass die komparativen Vorteile eines jeden Handelspartners letztlich die Nachteile mehr als ausgleichen und den Wohlstand für alle Beteiligten vermehren. Hier muss man jedoch bedenken, dass die Situa-tion in der Eurozone eine besondere ist. Es handelt sich bei diesen Staaten weder um eigenständige Volkswirtschaften, wo einseitig erzielte Überschüsse unweigerlich Auswirkungen auf das Wechselkursniveau und den Zinssatz gehabt hätten, noch sind es integrierte und wirklich homogene Volkswirtschaften mit hoher Faktormobilität und einheitlicher Fiskalpolitik.

Im letzteren Fall könnte die Zentralregierung versuchen, na-tionale/regionale Strukturschwächen mit Konjunktur- und Stabilisierungsmaßnahmen auszugleichen. Die Eurozone entspricht jedoch einem politisch-ökonomischen Mehrebenensystem mit einer einheitlichen Geldpolitik, aber 19 unterschiedlichen Steuer- und Arbeitsmarktpolitiken. Daher kann die gemeinsame Währung zwar zu einer allgemeinen Ansteckung und somit einer gemeinsamen Krankheit führen, deren Behandlung jedoch aufgrund der unterschiedlichen ökonomischen, politischen und institutionellen Kapazitäten und Gegebenheiten der Mitgliedsstaaten durch 19 verschiedene Therapieversuche behindert wird.

Dabei stoßen die schwächeren nationalen Akteure rasch an ihre Grenzen, sowohl an die politischen des Fiskalpaktes als auch an die ökonomischen der internationalen Finanzmärkte. Ohne politisch mächtiges Zentrum oder ohne die Garantie der finanzkräftigsten Mitgliedsstaaten ist jeder Gliedstaat des Euroraums weitgehend auf sich allein gestellt. Gilt einmal eine Volkswirtschaft als "Untergangskandidat", so möchten Investoren dem schlechten Geld kein gutes mehr hinterherschießen und ziehen sich zurück. Dadurch hinkt auch der Vergleich mit den USA, wo zwar die Bundesstaaten auch keine Schulden machen dürfen, dafür aber die Bundesregierung in Washington gezielt eingreifen kann.

Genau um dieses gemeinsame Zentrum geht es in der Diskus-
sion um die Euro- und nun Corona-Bonds. Aus Sicht der südlichen Mitgliedsstaaten brachte die Konstruktion der Währungsunion enorme strukturelle Vorteile für die exportstarken Industriestaaten, ohne dass es zentrale kompensatorische Mechanismen gäbe, wobei gleichzeitig die wirtschaftlich schwächeren Staaten ihrer früheren Schutzmechanismen beraubt wurden. Im Gegenteil, denn auf Grund der gemeinsamen Währung gibt es nun in den traditionell inflationären südlichen Hochzinsstaaten günstigere Kreditzinsen und somit einen perversen Anreiz zur Verschuldung, wovon wiederum die Exportstaaten profitieren, wenn etwa in Athen holländische Stadtbusse oder deutsche Mercedes-
taxis unterwegs sind.

Die Ursache der Problematik liegt in einer wirtschaftspolitischen Fiktion, für die hauptsächlich Deutschland verantwortlich ist. Seinerzeit bestand die Bundesrepublik auf einer Konzeption der Europäischen Zentralbank (EZB) nach dem Vorbild der Deutschen Bundesbank mit dem Mandat, allein der Währungsstabilität verpflichtet zu sein. Deutschland beharrte darüber hinaus auf dem berühmten Kriterienkatalog, den sogenannten Maastricht-Konvergenzkriterien. Die Fixierung auf Staatsverschuldung, Inflation und Budgetdefizite erzeugte beim Beitritt der verschiedenen Staaten zur Währungsunion jeweils die kurzfristige Illusion einer Konvergenz der Wirtschaften der Eurozone, obwohl sich diese in Wirklichkeit nach wie vor stark voneinander unterschieden, etwa im Hinblick auf ihre Arbeitsmärkte, Sozialsysteme, Steuerregime und innenpolitischen Spielregeln.

Die deutsche Angst vor Infla-
tion und Schulden verstellte die Sicht auf andere wichtige Strukturprobleme. Bei der Festlegung der Kriterien für die Aufnahme in die Eurozone meinte man in der Bundesrepublik jedoch, dass wenn die deutschen Tugenden wirtschaftlichen Handelns erst einmal von den Nachzüglern übernommen worden seien, sich ökonomische Stabilität, Produktivität und Wachstum automatisch einstellen würden.

Euro als Bumerang

Das sollte sich allerdings als kolossale Fehleinschätzung erweisen. Denn die neue makroökonomische Leitkultur prallte im Süden auf eine Tradition, die gewohnt war, Wettbewerbsfähigkeit durch Währungsabwertungen auszubessern und aufgehäufte Schuldenberge durch Inflation abschmelzen zu lassen. Die daraus resultierenden hohen Zinsen hatten zudem den Effekt, die Leute zum Sparen zu animieren und die Nachfrage nach Importprodukten zu dämpfen.

Periodische Abwertungen der Lira beispielsweise sorgten für die Konkurrenzfähigkeit italienischer Produkte, verringerten aber insgesamt die Produktivitätsrate vor allem gegenüber den stark aufholenden Wirtschaften Asiens. Infolgedessen erwies sich der Euro als ein Bumerang, welcher latente Ineffizienzen der italienischen und anderer südeuropäischer Wirtschaften zunächst verstärkte und schließlich schonungslos offenlegte.

Weder die Länder der süd- und westeuropäischen Peripherie noch die EU verfügten jedoch über die politischen Kapazitäten, hieraus die richtigen Lehren zu ziehen und rechtzeitig entsprechende wirtschaftspolitische Maßnahmen zu treffen. Dem Ansinnen, die südliche Peripherie zu einem für sie günstigeren und wettbewerbsfähigeren Wechselkurs in die Eurozone einzutreten zu lassen, standen die reicheren Staaten und natürlich Deutschland seinerzeit ablehnend gegenüber. Denn man fürchtet um die dortige Kaufkraft und die eigenen Exportchancen.

Zwar sollte die EZB in der Finanzkrise zum Retter des Euro in der Not werden, indem sie (gegen hinhaltenden Widerstand aus Deutschland) an die Grenzen ihrer gesetzlichen Möglichkeiten und phasenweise wohl noch ein wenig darüber hinaus ging, dennoch wurden die grundlegenden Strukturprobleme der Eurozone nicht bereinigt und zeigen sich nun bei jeder neuen Krise, wie derzeit bei Corona.

Anstatt die Transfers für die schwächeren Wirtschaften als eine Art Exportsubvention oder Finanzausgleich innerhalb eines gemeinsamen Wirtschaftssystems zu verstehen, verpflichtete infolge der Eurokrise der Norden den Süden durch beinharte Austeritätspolitik, die Produktionskosten in den Peripheriestaaten zu senken. Dies mochte zwar ökonomisch sinnvoll sein, war aber der brutalste Weg unter denkbar ungünstigsten Umständen.

Kollektive Bestrafung

Die Schaffung eines deutsch-kontrollierten Finanzdirektorates auf EU-Ebene und die Hilfskredite, die letztlich für Griechenland und die anderen Volkswirtschaften ergingen, schufen in den betroffenen Staat nie das Gefühl des solidarischen Beistandes, sondern den Eindruck einer kollektiven Bestrafung und Unterwerfung mit zu erduldender kommissarischer Beaufsichtigung. Die Troika wurde hierbei zum verhassten Symbol.

In dem Ausmaß, in dem in diesen Ländern die demokratische Selbstbestimmung von außen untergraben wurde, verlor dort die Politik an Glaubwürdigkeit und somit Legitimität. Das Ergebnis war nicht nur ein Siegeszug der Populisten zunächst in Griechenland und dann vor allem in Italien und auch Spanien, sondern auch ein massiver Vertrauensverlust in den europäischen Einigungsprozess. Dass sich die Bürger in den betroffenen Demokratien politisch wehren und sich für Politiker entscheiden würden, die gegen die bestehende Ordnung auftraten, lag auf der Hand.

Dass die EU anlässlich einer gänzlich unverschuldeten neuerlichen Krise, deren Folgen durch die oktroyierte Austeritätspolitik erst recht verschlimmert wurden, nun neuerlich denselben Mechanismus anwenden möchte, musste im Süden zwangsläufig zu einer Explosion der Emotionen führen.

Italiens Drohungen

Gerade angesichts der unfassbaren menschlichen Tragödien, die sich von der Lombardei bis Ma-drid zuletzt abspielten, war es nicht verwunderlich, dass sich selbst gemäßigte Pragmatiker wie der ita-lienische Regierungschef Conte zu Drohungen hinsichtlich der Zukunft der EU hinreißen ließ.

Dass Politiker wie Lega-Vorsitzender Matteo Salvini, wenn wieder an der Macht, nichts unversucht lassen werden, dort, wo Italien es kann, den anderen das Leben schwer zu machen, lässt sich bereits erahnen - und es wird für die Italiener sogar eine Genugtuung sein.

Als Reaktion darauf wird man bei uns wieder den fehlenden europäischen Geist beklagen, ohne die Vorgeschichte zu erkennen. Bleibt nur zu hoffen, dass es genau aus diesen Gründen, spät aber doch, nun zu einem Umdenkprozess kommt, zumindest bei unseren deutschen Nachbarn.

Reinhard Heinisch, geboren 1963 in Klagenfurt, ist Leiter der Abteilung Politikwissenschaft an der Universität Salzburg.