Das deutsche Bundesverfassungsgericht erklärte die EZB-Hilfsprogramme für teilweise verfassungswidrig und greift auch den Europäischen Gerichtshof an. Es ist ein Urteil mit gefährlicher Präzedenzwirkung.
Das vorliegende Urteil sei "keine leichte Kost", es könne "auf den ersten Blick irritierend wirken". Der Präsident des deutschen Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle übte sich am Dienstag in Karlsruhe in der Kunst der Untertreibung. Das Bundesverfassungsgericht hat die billionenschweren Aufkäufe von Staatsanleihen der Euroländer durch die Notenbank als teilweise verfassungswidrig eingestuft - und eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit verlangt. Die Begründung: Die Europäische Zentralbank (EZB) habe die Folgen des Anleihekaufprogramms nicht ausreichend geprüft, also etwa, was niedrige Zinsen für Sparer, Unternehmen und Aktionäre bedeuten.
Mit dem Urteil haben deutsche Gegner der Staatshilfen durch die EZB einen Sieg errungen - zumindest vorläufig. Die Zentralbank ist seit der Finanzkrise vor zehn Jahren der wichtigste Krisenhelfer in der EU: Um schwer verschuldete Staaten zu retten, kauft sie deren Staatsanleihen. Rund 2,6 Billionen Euro sind auf diese Weise seit 2015 geflossen. Und auch in der Corona-Krise legte die EZB ein ähnliches Programm vor. Doch die Hilfen der Notenbank haben prominente Kritiker, allen voran AfD-Gründer Bernd Lucke und der ehemalige CSU-Politiker Peter Gauweiler. Sie sehen die Kompetenzen der EZB überschritten, die über Ankäufe von Staatsanleihen einzelne Länder finanziere, was eigentlich verboten ist - und gingen bereits in der Vergangenheit gegen Hilfen der Notenbank vor. Die Kritiker klagten gegen die Rettungsschirme für Griechenland und Portugal sowie das Programm zur Eurorettung OMT. Doch bisher haben die Richter in Karlsruhe die Hilfen nicht als rechtswidrig erklärt, sondern lediglich an bestimmte Auflagen geknüpft. Nun aber stellt das Gericht die Beteiligung der Deutschen Bundesbank an den Anleihekäufen und damit auch die Rolle der EZB infrage.
"Brandgefährliche" Blockade
Darüber freute sich vor allem die AfD. "Das Verfassungsgericht zeigt auf, wer am Ende entscheidet: das deutsche Gericht und der deutsche Gesetzgeber, nicht der Europäische Gerichtshof", sagte der Leiter der AfD-Delegation im EU-Parlament, Jörg Meuthen. Und auch der CSU-Finanzexperte Markus Ferber war zufrieden. Vor verheerenden Folgen warnte hingegen Sven Giegold von den Grünen. "Die Lehre aus dem Urteil muss sein, dass die Regierungen der Eurozone die EZB nicht länger alleine lassen dürfen." Giegold hält es für "brandgefährlich", dass die Bundesregierung eine solidarische Fiskalpolitik blockiere.
Das Urteil ist auch eine Ohrfeige für den Europäischen Gerichtshof (EuGH): Er kam Ende 2018 in seinem Urteil zu dem Ergebnis, dass die Käufe nicht gegen EU-Recht verstoßen. "Das Bundesverfassungsgericht hat einen Justizkonflikt heraufbeschworen", sagt dazu Walter Obwexer. Der Experte für Europarecht an der Universität Innsbruck weist darauf hin, dass auch andere nationale Gerichte, etwa in Tschechien und Polen, ähnliche Urteile gefällt und sich damit über die europäische Rechtsprechung gestellt haben, die ausdrücklich über nationalem Recht steht. "Der Konflikt ist schärfer geworden", sagt Obwexer: "Das ist schlecht für die europäische Integration, aber nicht das Ende der EU." Denn das Bundesverfassungsgericht stelle nicht infrage, dass der EuGH für die Auslegung des Unionsrechts zuständig ist, sondern lediglich, dass er dabei nicht über seine Kompetenzen hinausgehen darf: Nicht die Staatsanleihen an sich seien "ultra vires" (kompetenzüberschreitend), sondern es sei die Verhältnismäßigkeit vom EuGH in seinem Urteil nicht ausreichend überprüft worden.
Die Gefahr, dass die Deutsche Bundesbank, die immerhin zu 20 Prozent an den Anleihekäufen der EZB beteiligt ist, künftig nicht mehr mithaftet, sieht Obwexer nicht. "Die Bundesbank muss lediglich darauf drängen, dass die EZB ihre Ziele und Beschlüsse künftig genauer begründet und ihre Verhältnismäßigkeit ausreichend überprüft."
Vor einer "langfristigen Präzedenzwirkung" warnt hingegen Stephan Schulmeister. Der Ökonom spricht von einem "Urteil mit katastrophalem Potenzial": "Das hat eine unglaubliche Sprengkraft." Der Kompetenzkonflikt zwischen dem EuGH und dem deutschen Gericht werfe prinzipielle Fragen auf, "das ist politisch gefährlich". Auch Schulmeister erinnert an Polen, wo ein nationales Gericht feststellte, dass der EuGH keine Kompetenz bei juristischen Reformen in dem Mitgliedstaat habe. Wenn sich Deutschland als größtes EU-Land über Urteile des EuGH hinwegsetze, dann bliebe das nicht ohne Folgen: "Wir haben die Büchse der Pandora geöffnet."
"Gravierender Justizkonflikt"
Von einer Vorbildwirkung für andere Länder spricht auch Obwexer: "Umso gravierender ist der Justizkonflikt." Nur: Das Ende der Europäischen Union bedeute das keinesfalls. Die EZB müsse ihre Maßnahmen nun genauer begründen, dann sei der konkrete Streitfall weitgehend erledigt. "Ich nehme nicht an, dass das Bundesverfassungsgericht den offenen Konflikt mit dem EuGH sucht", sagt der Europarechtler. Denn dann wäre die europäische Integration als Rechtsintegration tatsächlich am Ende.