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Das Scheitern eines großen Versprechens

Von Felix Lill aus Japan

Wirtschaft
Japan ist die erste Industrienation, die im Zuge der Pandemie in eine Wirtschaftskrise rutscht.
© Kogiku

Als erste große Volkswirtschaft rutscht Japan inmitten der Pandemie in eine Rezession. Dabei liegen die Ursachen vor dem Ausbruch des Virus. Die Wirtschaftsstrategie von Premierminister Shinzo Abe ist nun wohl endgültig gescheitert.


Um 3,4 Prozent ist die Wirtschaftsleistung Japans während der ersten drei Monate des Jahres eingebrochen. Im Vergleich zum gleichen Zeitraum 2019 gingen die Menschen vor allem weniger in Restaurants, reisten weniger durchs Land, kauften weniger Autos. Investitionen in Immobilien nahmen um 4,5 Prozent ab, Exporte sogar um sechs Prozent. Dabei betreffen diese Zahlen noch nicht die Zeit nach der Erklärung des nationalen Ausnahmezustands gegen Anfang April, durch den die Wirtschaft erst richtig zum Erliegen kam. Für das zweite Quartal 2020 erwarten Analysten derzeit einen Rückgang um rund 22 Prozent.

In einer Rezession ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt aber schon jetzt. Japan ist die erste Industrienation, die in der Pandemie in eine Wirtschaftskrise rutscht. Rezessionen definieren sich nämlich durch zwei aufeinanderfolgende Quartale mit negativem Wachstum. Und im Land war schon im vierten Quartal 2019 die Wirtschaft geschrumpft. Damals galten als Auslöser ein Taifun, der schwere Schäden anrichtete, sowie die Mehrwertsteuererhöhung von acht auf zehn Prozent, die den privaten Konsum drückte.

Während Japan nun schon früher eine Rezession erreicht hat als andere Länder, konzentriert sich die Regierung um Premierminister Shinzo Abe derzeit auf die Corona-Pandemie als Ausgangspunkt. "Die aktuelle ökonomische Situation ist die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg", sagte ein Mitarbeiter des Regierungskabinetts Anfang der Woche der Nachrichtenagentur Kyodo. Wäre die Pandemie nicht gekommen, hätte die japanische Wirtschaft Anfang des Jahres wohl wieder Fahrt aufgenommen. Schließlich wären die Effekte durch den Taifun und die höhere Mehrwertsteuer dann verschwunden.

Niemand bezweifelt, dass der Grund für die deutlichen Rückgänge seit Anfang des Jahres in der Pandemie und den dadurch veranlassten Maßnahmen des Social Distancing liegen. Allerdings fällt für das Szenario ohne das grassierende Virus bei weitem nicht jede Analyse der japanischen Wirtschaft so positiv aus wie jene der Regierung. Ein oder zwei Jahre werde es dauern, bis das Vorkrisenniveau wieder erreicht sei, erwartet Yuichi Kodama, Chefökonom beim Lebensversicherer Meiji Yasuda. "Im Grunde stagnierte die Wirtschaft schon vorher, die Corona-Epidemie gab ihr noch einen deutlichen Schlag."

"Abenomics" sollte es richten

Diese nicht ungewöhnliche Einschätzung ist ein vernichtendes Urteil über die Wirtschaftspolitik von Premierminister Abe. Der wurde Ende 2012 ins Amt gewählt, nachdem er der Bevölkerung versprochen hatte, für einen neuen Boom zu sorgen. Vorbei seien die Jahre des Wachstums an der Nulllinie, zurück komme die Ära der Expansion, die in Japan einst fast ohne Unterbrechung über Jahrzehnte andauerte und 1990 mit einem Börsencrash abrupt endete. Abes nach ihm selbst benannte Strategie "Abenomics" sollte dies richten: eine Kombination aus noch höheren Staatsausgaben als zuvor, einer noch lockeren Geldpolitik sowie wachstumsfördernden Strukturreformen. Fortan sollte die Wirtschaft jährlich um drei Prozent wachsen.

Doch nach scheinbaren Erfolgen zu Beginn, die sich vor allem durch steigende Kurse an der Börse bemerkbar machten, ist schon länger klar, was Kritiker von Beginn an wussten: Abes Programm war ein großer Bluff. Zwar hat Abenomics nicht zuletzt durch das billige Geld der Zentralbank die Internationalisierung japanischer Betriebe vorangetrieben. Aber die Reallöhne sind de facto nicht gestiegen und das Wirtschaftswachstum von durchschnittlich einem Prozent unterscheidet sich kaum von dem der Vorgängerregierung, die er mit dem Versprechen abgelöst hatte, diese in den Schatten zu stellen. Die derzeitige Rezession ist schon die dritte unter Abes Amtszeit.

Ein wichtiger Grund für das Ausbleiben des versprochenen Booms ist die ob der demografischen Alterung seit Jahren sinkende Arbeits- und Gesamtbevölkerung, die eine einzige Regierung auch nicht umkehren kann. So hat die Corona-Krise in Bezug auf Abenomics nur das getan, was sie auch in zahlreichen anderen Wirtschaftsräumen verursacht: Sie beschleunigt Trends, die zuvor schon zu beobachten waren. In Japan ist dies nicht zuletzt die Erkenntnis, dass die Wirtschaftspolitik der rechtskonservativen Regierung wohl als teurer Spaß ohne einen Großteil der gewünschten Effekte erinnert werden wird.

Ohne Olympia keine Hoffnung

Zudem fehlt für Abes Konzept ein Licht am Ende des Tunnels. In diesem Sommer sollten eigentlich die Olympischen Spiele von Tokio stattfinden, die der Premier immerzu als Fernziel genutzt hatte, an dem man sich orientieren könnte. Je länger das Wachstum auf sich warten ließ, desto wichtiger wurde die Aussicht, dass ab Juli 2020 die Welt zu Besuch kommen würde. 40 Millionen Touristen hatte die Regierung angepeilt. Zudem sollte "Tokyo 2020" als Werbemöglichkeit für diverse japanische Betriebe gelten. Durch die Verschiebung des Großevents um zunächst ein Jahr kommen nur weitere Kosten in Milliardenhöhe zustande, während die Erlöse ausbleiben.

Unterdessen ist die Bevölkerung zusehends unzufrieden. Nicht nur die Zustimmungsquote für die Arbeit der Regierung liegt mit 37 Prozent auf einem Tiefpunkt. Auch das konkrete Krisenmanagement von Abe halten 80 Prozent einer Umfrage der Nachrichtenagentur Kyodo für verspätet. Nachdem Abe wochenlang gezögert hatte, auch um die Olympischen Spiele für dieses Jahr zu retten, rief er erst Anfang April den Ausnahmezustand aus. Dadurch können auf Regionalebene Geschäftsschließungen und Ausgangssperren verlangt werden.

Die Zahl der dokumentierten Infektionsfälle verdoppelte sich indes eine mitunter wöchentlich. Aktuell liegt sie bei rund 17.000, wenngleich viele Experten die wahre Fallzahl auf ein Vielfaches schätzen, da nur wenig getestet wird. Umfragen zeigen, dass die japanische Bevölkerung die Krise für verschleppt hält, sowohl gesundheitspolitisch als auch ökonomisch.

So ist auch wenig Lob zu hören, was die wirtschaftspolitischen Maßnahmen gegen die Krise angeht. 100.000 Yen (rund 860 Euro) sollen private Haushalte als Unterstützung erhalten, für Betriebe gibt es einen separaten Hilfsfonds. In der Öffentlichkeit und auf sozialen Medien wurde das Programm überwiegend als unklar und ungenügend kritisiert. Laut einer Telefonumfrage der Tageszeitung "Mainichi Shimbun" ist nur die Hälfte der Bevölkerung der Meinung, die angebotenen Summen seien angemessen für das Ausmaß der Krise.

Abe hat mittlerweile weitere Stimuli in Aussicht gestellt. Der Ausnahmezustand wurde dagegen in der vergangenen Woche für zumindest 39 der 47 japanischen Präfekturen wieder aufgehoben, weil dort die Zahl der Neuinfektionen zuletzt nur noch relativ gering gewesen sei. Für diese Gegenden, die nicht die größten Metropolregionen um Tokio und Osaka einschließen, hat Abe einen Weg zu einer "neuen Normalität" angekündigt. Der Begriff Abenomics ist aber schon länger nicht mehr gefallen.