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Der große Graben zwischen Börsen und Realwirtschaft

Von Karl Leban

Wirtschaft

Corona-Party statt Krisenstimmung: Während die Realwirtschaft leidet, sind die Aktienkurse nach ihrem Crash im März und der erneuten Korrektur am Donnerstag noch immer höher, als es die wirtschaftliche Lage erwarten ließe.


Krise? Welche Krise? Viele Anleger fragen sich das offenbar. An den Börsen war von einer Krise zuletzt jedenfalls kaum etwas zu sehen. Nach dem Corona-bedingten Absturz im März, der den Aktienindizes Verluste von bis zu rund 40 Prozent beschert hatte, setzte nämlich eine ungewöhnlich rasche Kurserholung ein. Dabei ging es etwa an der Wall Street, aber auch an den Börsen in Frankfurt und Wien um bis zu rund 50 Prozent nach oben - auch wenn der S&P 500 am Donnerstag um 6 Prozent nachgab (der größte Kurssturz seit 12 Wochen) und der Dow Jones Index um 1800 Punkte fiel.

Besonders kurios: Die US-Technologie-Börse Nasdaq, an der Konzerne wie Unternehmen wie Apple, Microsoft, Facebook oder Tesla notieren, markierte Anfang Juni sogar ein neues Rekordhoch - und das mitten in der schlimmsten globalen Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg.

Zwischenzeitig haben etliche Börsen-Leitindizes, darunter der Dow Jones, der Nikkei und der DAX, mittlerweile so stark zugelegt, dass sie im Vergleich zu ihrem Punktestand vor einem Jahr trotz Corona bereits ein paar Prozent im Plus waren. Bis freilich der Kurssturz am Donnerstag die Börsenkurse wieder auf den Boden der Realität zurückholte. Die Kurskorrektur könnte freilich weitergehen.

Märkte preisen Zukunft ein

Mit Blick auf die jüngste Börsenentwicklung könnte man nun meinen, dass die Zuversicht unter den Investoren aufgrund der Ankündigung unzähliger staatlicher Hilfsprogramme und massiver Liquiditätsspritzen der Notenbanken wächst, dass es bei den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie doch nicht so dick kommt wie ursprünglich befürchtet. Schließlich werden an der Börse Erwartungen gehandelt, und das spiegelt sich dann eben in den Kursen wider.

Etliche Stimmen im Markt äußern sich jedoch kritisch zu den aktuellen Entwicklungen. Sie sprechen von einer "Überbewertung" - demnach seien die Aktienkurse den Fundamentaldaten davongelaufen - und geben damit zu bedenken, dass die überaus schnelle Kurserholung keine ökonomische Basis habe, sondern lediglich eine Folge der umfangreichen Notmaßnahmen von Zentralbanken wie etwa der Fed oder der EZB sei. Vor diesem Hintergrund meinte kürzlich ein im deutschen "Handelsblatt" zitierter Börsenexperte denn auch: "Die Chance auf eine Fortsetzung der Rally ist deutlich geringer als das Risiko einer Korrektur."

Angesprochen auf das aktuelle Geschehen an den Börsen sagt Monika Rosen, Chefanalystin der Unicredit Bank Austria: "Im Zuge der Corona-Krise wurde viel von der berühmten V-förmigen Erholung gesprochen: ein schneller Absturz, gefolgt von einem (fast) ebenso schnellen Comeback. Ob das bei der Konjunktur so eintreffen wird, ist noch nicht ganz klar, wir gehen aber von einer deutlichen Belebung der Wirtschaft im Jahr 2021 aus. An den Weltbörsen gab es jedoch ein ganz eindeutiges V."

In diesem Zusammenhang findet Rosen es "bemerkenswert, dass bei den meisten bisherigen Korrekturen das Tief immer zumindest einmal getestet wurde". Das heißt, auf den Kursabsturz folgt meist eine erste Erholung, dann nochmals ein Rückgang, wobei das alte Tief aber nicht unterschritten wird, und erst dann geht es nachhaltig nach oben. "Diesmal war das das anders", sagt Rosen. Der Markt sei abgetaucht, die folgende Rally sei aber quasi linear gelaufen - ohne nennenswerten Rücksetzer. "Viele Beobachter trauen dem Optimismus daher nicht so ganz und erwarten im weiteren Jahresverlauf eine durchaus markante Korrektur, wenn auch nicht unbedingt einen Test der Tiefstände vom März."

Risiko durch Pandemie bleibt

"Wir sind in unserer Asset Allocation (Anlageaufteilung, Anm.) derzeit bei Aktien neutral gewichtet", sagt Rosen weiter. "Langfristig sind wir durchaus optimistisch, dass sich die konjunkturelle Erholung auch nachhaltig am Aktienmarkt niederschlagen wird." Unterstützt werde die Entwicklung auch von der "überaus lockeren Geldpolitik" aller großen Notenbanken. Dennoch gehe von der Corona-Pandemie weiterhin ein Risiko aus, und zwar in gesundheitlicher und damit auch in wirtschaftlicher Hinsicht, so Rosen. Insofern will sie eine abermalige Schwankungsanfälligkeit der Börsen "keinesfalls ausschließen".