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Zwischen Wendepunkt und vergebenen Chancen

Von Andreas Lieb aus Porto

Wirtschaft
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel.
© reuters / Estela Silva

Die EU-Staatschefs treffen sich am Freitag in Porto zu einem Sozialgipfel. Es geht um Jobs, Mindestlöhne und soziale Standards.


Der Gipfel, so erzählt ein fachlich versierter EU-Politiker, sei leider nicht gut vorbereitet worden. Vielleicht lag es an der Pandemie, die ständig alle anderen Themen ausbremst und Planungsarbeiten über den Haufen wirft, vielleicht hat sich Portugals sozialistischer Premier Antonio Costa das herausragende Ereignis der rotierenden Ratspräsidentschaft auch etwas leichter vorgestellt.

Abseits vom eigentlichen Thema geht es natürlich wieder um Corona und die Folgen: Beim Grünen Pass muss dringend Tempo gemacht werden, das Projekt sei jedenfalls "alternativlos", sagt Kanzler Sebastian Kurz. In der höchstrangigen Runde wird auch über die jüngst vorgeschlagene Freigabe der Vakzin-Patente diskutiert, und diesen Samstag gibt es auch noch - nur noch per Video - einen eigenen Indien-Gipfel, der ebenso im Zeichen von Corona steht.

Doch nach der Pandemie ist vor dem Aufschwung. Die neue EU soll digitaler werden, Vorreiter beim Klimaschutz, Primus in der Forschung. Die Geldtöpfe der Wiederaufbauprogramme sind prall gefüllt. Die neue EU will die Bevölkerung mit auf die Reise nehmen - am Sonntag ist passenderweise der festliche Auftakt für die "Konferenz zur Zukunft Europas" mit aktiver Bürgerbeteiligung in allen Ländern. "Niemand soll zurückgelassen werden", unter dieses Motto haben die EU-Institutionen den Aufbruch in die neuen Zeiten gestellt.

Aber wie das gehen soll, darüber herrscht die klassische europäische Uneinigkeit. Porto könnte der Wendepunkt sein, wie die sozialdemokratische Fraktionschefin im EU-Parlament, Iratxe Garcia, sagt - oder es ist ein Gipfel der vergebenen Chancen.

Selbst innerhalb der Regierungen gehen die Meinungen auseinander, Österreich ist ein schönes Beispiel dafür. Bundeskanzler Sebastian Kurz und Arbeitsminister Martin Kocher (beide ÖVP) sind nach Porto gekommen und zeigen sich skeptisch beim Mindestlohn.

Kurz will Sozialpartnerschaft nicht gefährden

Kocher: "Es geht darum, eine gesetzeskonforme Regelung zu schaffen und die Sozialpartnerschaft in Österreich zu stärken." Die Autonomie von Ländern mit guten kollektivvertraglichen Lohnfestsetzungen soll nicht gefährdet werden, das sei beim vorliegenden Vorschlag noch nicht ganz gesichert.

Sebastian Kurz spricht von den unterschiedlichen Systemen und Lohnniveaus in den Mitgliedsstaaten: "Wir haben ein Interesse an möglichst hohen Sozialstandards in ganz Europa, wir wollen aber nicht unsere nach unten nivellieren." Die Sozialpartnerschaft dürfe nicht gefährdet werden. Nicht in Portugal ist der neue Gesundheits- und Sozialminister Wolfgang Mückstein (Grüne). Und er lässt von Wien aus ausrichten, dass er das ganz anders sieht: In einem offenen Brief mit grünen Ministern in Irland, Luxemburg, Finnland und Belgien unterstützt Mückstein die Forderung, dass alle Arbeitnehmer "über die EU-Mindestlohn-Richtlinie für ihre Arbeit angemessen entlohnt werden".

Der EU-Sozialgipfel müsse anerkennen, "dass soziale und ökologische Nachhaltigkeit komplementäre Ziele sind", heißt es. Die grünen Minister fordern auch, dass sich die Europäische Union das Ziel setzt, Obdachlosigkeit bis spätestens 2030 zu beenden. "Mit mindestens 700.000 Menschen in der EU, die nicht einmal ein Zuhause haben, müssen ehrgeizige Schritte gesetzt werden." Schützenhilfe kommt von EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit. Einen "europäischen Mindestlohn" habe die EU gar nicht vorgeschlagen, dieser sei unrealistisch. "Wir haben gesagt, wir brauchen in verschiedenen Ländern bessere Mindestlöhne." Es sei aber klar, dass es zwischen Bulgarien mit derzeit rund 300 Euro Mindestlohn und Luxemburg mit 2300 Euro keinen einheitlichen europäischen Mindestlohn geben könne. "Aber wir glauben, dass im Rahmen der wirtschaftlichen Möglichkeiten auch der Lebenshaltungskosten es Anpassungen nach oben geben kann."

Schmit zeigte sich überzeugt, dass Länder auf Dauer nicht allein über Lohnkosten konkurrenzfähig sein könnten. Auch sie müssten in Technologie und Kompetenz investieren. "Niedrige Löhne werden sie auf längere Sicht nicht konkurrenzfähig halten. Wir brauchen auch hier eine Anpassung der Lebensstandards. Wir können nicht einen Binnenmarkt haben, wo es solche großen Differenzen gibt. Das ist auch eine Gefahr für den Zusammenhalt Europas."

Der Sozialgipfel ist zweigeteilt, es gibt somit auch zwei Schlussdokumente. Am Freitag waren zunächst die Sozialpartner und NGOs sowie die Wirtschaft am Wort, eine extrem schwierige Kombination. Sie liefern eine Vorlage für den Gipfel am Samstag. Grundlage ist der Aktionsplan der Kommission, erst vor wenigen Wochen präsentiert, als spätes Ergebnis des letzten Sozialgipfels 2017 in Göteborg.

Beschäftigungsquote von mindestens 78 Prozent

Als Ziele formuliert wurde eine Beschäftigungsquote in der EU von mindestens 78 Prozent, die Teilnahme von mindestens 60 Prozent der Erwachsenen an Weiterbildung in jedem Jahr und die Verringerung der Zahl der von sozialer Ausgrenzung oder Armut bedrohten Menschen um mindestens 15 Millionen, einschließlich fünf Millionen Kinder.

Der Entwurf der Gipfelerklärung sei sehr "weich", sagt noch im Vorfeld der EU-Abgeordnete Dennis Radtke, Sozialexperte der CDU. Auch er verweist auf die Bruchlinien am Beispiel EU-weiter Mindestlohn: "Die nordischen Länder mit ihren funktionierenden Sozialsystemen wollen ihre Ruhe, der Süden, Spanien, Italien, Frankreich kämpft dafür, die Osteuropäer stehen auf der Bremse, weil sie um ihren Wettbewerbsvorteil fürchten."

Man dürfe sich aber von einem halbherzigen Gipfelergebnis nicht entmutigen lassen. Radtke: "Es gibt nie die großen Quantensprünge auf einmal, immer nur kleine Schritte. Und dann gibt es Momente wie jetzt, wo man zu einem Gamechanger kommen kann - wie beim Mindestlohn."