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"Eine wirkliche Partnerschaft mit Afrika muss auf Augenhöhe sein"

Von Von Joana Adesuwa Reiterer und Klaus Huhold

Wirtschaft
Joadre Fashion verschaffte Schneiderinnen einen Zugang zu verschiedenen Märkten. 
© joadre

Joana Adesuwa Reiterer hat ein Modelabel gegründet und Kleidung von Nigeria nach Europa gebracht. Sie wollte aber nicht nur billig für den Westen produzieren und ging ihren eigenen Weg.


Die Schauspielerin, Menschenrechtsaktivistin und Buchautorin ("Die Wassergöttin") Joana Adesuwa Reiterer kam 2003 nach Österreich. Sie engagierte sich zunächst mit ihrem Verein "Exit" gegen Menschenhandel. 2014 gründete sie gemeinsam mit Unterstützern wie etwa der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit (ADA) oder Social-Impact-Investoren das Modeprojekt "Joadre Fashion", das zunächst Mode aus Nigeria nach Europa bringen wollte und dann aber auch noch weitere Wege ging. "Wiener Zeitung"-Redakteur Klaus Huhold hat sie berichtet, warum es zunächst schwierig war, Kleidung von Nigeria nach Österreich zu bringen, wie sich Geschmäcker unterscheiden, warum viele Nigerianer einen anderen Bezug zur Arbeit haben - und wie sie einen Ausweg aus dem Dilemma sucht, dass es noch immer keine gerechte Beziehung zwischen Afrika und dem Westen gibt:

Joana Adesuwa Reiterer.
© joadre

"Als wir Joadre Fashion gegründet haben, war für uns klar, dass das Projekt auch eine starke soziale Komponente hat – sonst muss ich ja nicht nach Nigeria gehen, sondern kann die Kollektionen in China günstiger bestellen. Wir wollten deshalb von Anfang an einen eigenen Weg gehen.

Die Näherinnen, die wir engagiert haben, kannte ich einerseits aus meiner Sozialorganisation Exit. Diese versucht, junge Frauen, die nach Europa wollen, davor zu bewahren, Opfer von Menschenhändlern zu werden. Andererseits handelte es sich um Schneiderinnen, die ich auf lokalen Märkten kennengelernt hatte.

Das war eine sehr nigerianische Herangehensweise, dass ich einfach durch die Straßen spaziert bin und geschaut habe, welchen Schneiderinnen ich dort begegne. Gleichzeitig war ich, als wir dieses Projekt starteten, schon sehr stark eine Wienerin, ich lebte ja schon mehr als ein Jahrzehnt in Europa, und brachte entsprechende Vorstellungen mit. Ich dachte, dass wir einfach eine Produktionswerkstatt eröffnen und unser Projekt, wie ich es von europäischen Beispielen kannte, ins Laufen kommt.

Aber vor Ort merkte ich dann schnell, dass das nicht so funktioniert: Denn die jungen Frauen, die wir unterstützen wollten, hatten ihren eigenen Zugang und ihre eigenen Erfahrungen. Und in Österreich haben wir wiederum eigene Standards, wie die Produkte ausschauen oder beschaffen sein sollen. Das hat bedeutet, dass wir diese jungen Frauen in diese Richtung ausbilden mussten. Viele konnten schon nähen, aber auf andere Weise für lokale Abnehmer. Sie haben dafür meistens Einzelstücke produziert, aber wir hatten ein Konzept für den europäischen Markt, deshalb musste man vieles digitalisieren, standardisieren und so weiter.

Die drei Ausbildungsjahre waren dann eine sehr intensive Phase und freilich kostet so eine Ausbildung Geld, ohne dass sie gleich Einnahmen einbringt. Deshalb haben wir in der Mitte der Ausbildung begonnen, eine sehr schlichte Tasche zu produzieren und in Österreich zu verkaufen. Die Schneiderinnen fragten sich, wer so eine Tasche trägt, aber ich war überzeugt, dass sich diese am österreichischen Markt gut verkaufen könnte.

Für den europäischen Markt musste vieles digitalisiert und standardisiert werden. 
© Joadre

Man kann das freilich nicht zu sehr verallgemeinern, aber der Geschmack und auch das Material sind in Nigeria oft ganz anders: Dort trägt man Kleidung gerne farbenfroh und mit viel Drama, also auch gerne mit einem außergewöhnlichen Design, während es die europäischen Konsumenten oft lieber nicht so bunt mögen. Oder es sind die Stoffe in Europa immer dehnbar, die Konsumenten wollen das auch so, was in Nigeria nicht der Fall ist. Das war ein bisschen verrückt: Weil derartige Stoffe in Nigeria teilweise nicht genügend vorhanden waren, mussten wir sie zuerst aus Europa nach Nigeria importieren und dann wieder auf dem umgekehrten Weg exportieren.

Zudem mussten wir damit umgehen, dass viele Nigerianer einen ganz anderen Bezug zur Arbeit haben. Sie trennen ihre Arbeit nicht so sehr von ihrem restlichen Leben, wie das die Europäer machen. Die Europäer führen oft zwei getrennte Leben: Eines, in dem sie arbeiten und darin funktionieren, und eines, in dem sie Spaß haben, Zeit mit ihrer Familie verbringen oder ihren Hobbies nachgehen. Die Nigerianer versuchen viel stärker, das alles in ein Leben zu integrieren.

Mir ist schon bewusst, dass man dadurch in Europa sehr effizient und produktiv ist – aber manchmal ist man auch so produktiv, dass man es gar nicht mehr ist und dann vielleicht im Burn-Out landet. In Nigeria wiederum sind oft andere Sachen wichtiger als die Arbeit. Vielleicht kann man versuchen, hier einen Mittelweg zu finden – so haben wir es auch bei uns in der Produktion gemacht.

Plötzlich begannen alle zu feiern

Einmal kam etwa eine Schneiderin und erzählte mit strahlendem Gesicht, dass ihr Bruder gerade Vater geworden war. Alle haben plötzlich zu feiern begonnen. In Europa würde wohl kaum jemand einen stillen, konzentrierten Arbeitsprozess mit seinen Privatgeschichten derart durcheinanderwirbeln, da würde man wahrscheinlich eher schnell eine WhatsApp-Nachricht an ein paar Freunde schicken und weiterarbeiten. Auch ich selber habe mir im ersten Moment vor allem Sorgen wegen der Produktion gemacht.

Aber schließlich dachte ich mir: "Wenn sie etwas derart Privates am Arbeitsplatz teilt, dann ist sie nicht nur hier, um Geld zu verdienen, sondern dann ist das für sie auch eine wichtige soziale und kulturelle Umgebung." Und ich als Arbeitgeber muss das wahrnehmen. Also habe ich sie eine Stunde feiern lassen und dann haben wir weitergenäht. In Europa teilt man dafür Extra-Stunden ein, die man Team-Building nennt, hier fließt das in den Arbeitsprozess ein.

Wirklich schwierig war es am Anfang auch, unsere Kleidungsstücke nach Europa zu bekommen: Wir haben oftdie nigerianische Post benutzt, weil sie am günstigsten war, aber das hat ein, zwei Monate gedauert, bis die Waren angekommen sind. Wenn wir auf einen Anbieter wie DHL zurückgriffen, was wir auch immer wieder gemacht haben, zahlten wir schon das Vierfache.

Joana Adesuwa Reiterer mit einem Mantel aus der Jaodre-Kollektion.
© Joadre

Sonst ist es in Europa so: Wenn man die entsprechenden Formulare korrekt ausfüllt, gibt es keine Probleme. In Nigeria ist das anders. Da können alle Formulare vollkommen in Ordnung sein, trotzdem wird deine Ladung von der Zollbehörde nicht freigegeben. Freilich ist hier Korruption ein riesiges Problem, und ich will diese auch nicht schönreden, sie hält viel Entwicklung in dem Land auf. Aber wir haben nie Bestechungsgelder gezahlt, und ich empfehle auch niemandem, damit zu beginnen, weil wer das einmal macht, kommt nicht mehr aus.

Wenn man aber die kulturellen Unterschiede versteht, kann man eine kleine Öffnung in diesem System finden, durch die man hindurch gehen kann. Man muss sich die Zeit nehmen, die Beamten kennenzulernen, mit ihnen reden, auf einer persönlichen Ebene zusammenkommen, dann werden sie dir helfen. Am Wochenende kannst du in der Kirche und bei sozialen Veranstaltungen dieselben Beamten treffen, die unter der Woche deine Papiere bearbeiten werden. Ich weiß, in Europa nennt man das, was ich hier beschreibe, Freunderlwirtschaft, aber wenn wir sagen, so etwas gäbe es bei uns in Europa nicht, dann belügen wir uns doch auch selbst.

Schneiderinnen wurden Unternehmerinnen

2019 hatten wir dann nach drei Ausbildungsjahren unsere eigene Produktion, bei der wir Schnittstellen zwischen der Arbeit unserer Näherinnen und dem europäischen Markt gefunden haben. Ich war bei mehr als 30 Messen in Österreich und Deutschland, und wir nutzten auch zusehends den Versand über das Internet.

Mit der Zeit habe ich aber gemerkt, dass mit dem Konzept, in einem Niedriglohnland für den europäischen Markt zu produzieren, etwas nicht stimmt. Denn ein Großteil der Einnahmen konnte gar nicht zu den Schneiderinnen gehen. Der Versand, die Werbung, der Zoll, die Steuern hier - all diese Kosten, die anfallen, sorgen dafür, dass alle möglichen Teilnehmer von der Arbeitskraft der Schneiderinnen profitieren. Freilich verschafft man ihnen ein regelmäßiges, für nigerianische Verhältnisse sogar überdurchschnittliches Einkommen, vor allem aber lässt man die europäische Wirtschaft weiter wachsen. Langfristig war das für uns keine nachhaltige Geschäftspartnerschaft zwischen den beiden Kontinenten.

Somit haben wir 2019 – damals arbeiteten 18 Frauen bei uns in der Werkstatt, wovon aber 15 noch in der Lehre waren - beschlossen, dass einige Näherinnen selbstständig und ihre eigenen Unternehmerinnen werden sollen. Wir haben daher gezielt einige Frauen in der Werkstatt angesprochen, die unternehmerisches Talent hatten. Und wir haben unsere Ausbildung erweitert, Teil davon waren nun auch Managementfähigkeiten, Logistik und ähnliches.

Eine Tasche von Joadre.
© Joadre

Schließlich haben sechs Schneiderinnen ihr eigenes Unternehmen gegründet. Sie alle kamen aus unserer Werkstatt und haben wiederum Näherinnen, die etwa bei uns Lehrlinge waren, mitgenommen. Mittlerweile hat sich das Netzwerk, in dem es auch Männer gibt, auf 65 Personen ausgeweitet. Und die Aufgabe von uns, von Joadre Fashion, besteht nun darin, dieses Netzwerk zu fördern.

Zum einen war der Sinn dahinter, dass die Schneiderinnen mit den Kenntnissen, die sie gewonnen haben, auch selbstständig für den lokalen Markt produzieren können und nicht voll und ganz von dem von uns vermittelten Exportmarkt abhängig sind. Das hat sich dann auch als großes Glück herausgestellt: Mit der Corona-Krise ist der Export nach Europa nämlich eingebrochen.

Nigerianer nicht Eigentümer ihrer Arbeit

Die Idee reichte aber auch viel tiefer. Bei meinen Reisen nach Nigeria, bei denen ich immer wieder vielen Geschäftsleuten begegne, ist mir aufgefallen, dass die Nigerianer zu wenig Unabhängigkeit von fremden Strukturen, zu wenige Anteile an den Erträgen haben und noch immer viel zu wenig Eigentümer ihrer Arbeit sind. Firmen kommen in das Land, um sich an den natürlichen Ressourcen zu bedienen oder um die billige Arbeitskraft zu nutzen. Die Menschen machen dann immer die gleiche Arbeit, ohne selbst etwas aufbauen zu können.

Wenn wir unsere Branche als Beispiel nehmen: Die Schneiderinnen können keine eigene Kollektion entwerfen, sondern sind die ganze Zeit einem standardisierten Prozess für ausländische Märkte unterworfen. Weil wir das nun aber geändert haben, können unsere Schneiderinnen als selbstständige Unternehmerinnen auftreten. Erhalten wir nun eine Anfrage, etwa aus Deutschland, fungiere ich nur noch als Vermittlerin, die die Kontakte bereitstellt, den Rest können sie selbst, und ich muss viel weniger vom Kuchen abschneiden.

Immer wieder denke ich darüber nach, wie wir einen Ausweg aus diesem Dilemma finden können, dass es weiterhin keine faire und nachhaltige Partnerschaft zwischen dem Westen und Afrika gibt. Es ist schwierig: Soziale Organisationen und soziale Unternehmen machen oft eine wunderbare Arbeit - denn wir sind Menschen und können nicht zusehen, wenn andere verhungern oder es ihnen schlecht geht. Aber gleichzeitig halten sie auch die ganze ungerechte Struktur aufrecht, indem sie die Härten des Systems abfedern.

Und wenn große Unternehmen nach Afrika kommen, dann sehen sie oft nicht, was Afrika wirklich ist und kann. Nehmen wir ein praktisches Beispiel und sagen wir, eine europäische Firma will Getränke, vielleicht aus verschieden Kräutern, verkaufen. Sie erkennt aufgrund ihrer Statistiken und Erhebungen, dass es dafür in Nigeria einen großen Markt gibt und dass dort so etwas auch gerne getrunken wird. Das ist ein sehr westlicher Zugang, der sich um Effizienz, Daten und Einnahmen dreht.

Aber die Firma könnte auch einen anderen Zugang wählen und sich fragen: Welchen Nutzen hat dieses Produkt? Vielleicht hilft es bei der Verdauung. Damit wäre die nächste Frage: Wie haben die Menschen in Nigeria bisher ihre Verdauungsprobleme gelöst? Dann wird man dahinter kommen, dass es im ganzen Land verstreut lokale Kräuterheilerinnen gibt und es zur Alltagskultur gehört, zu ihnen zu gehen und vor der Arbeit noch einen kleinen Becher zu trinken. Und nun könnte sich die Firma fragen: Welches Wissen haben diese Kräuterheilerinnen und wie können wir mit ihnen zusammenarbeiten? In der Kolonialzeit ist von den Europäern so viel lokales Wissen zerstört worden, jetzt hätte man doch die Möglichkeit, das anders zu machen! Man könnte mit diesen Frauen vielleicht eine gemeinsame Marke entwickeln, die dann auch beiden Seiten auf Augenhöhe gemeinsam gehört.

Allerdings befinden sich diese Frauen nicht im Blickfeld der westlichen Firma. Sie bedienen zwar 80 Millionen Nigerianer, sind auch in einem Netzwerk organisiert, sie gehören aber einem informellen Netzwerk an, sie sind keine Marke, die im Supermarkt erhältlich ist oder in irgendeiner Statistik aufscheint.

Zudem ist die klassische Denkweise von Investoren: Wer das Geld hat, muss regieren. Sie zahlen also eine Werbeagentur, bringen ihr Produkt auf den Markt und verdrängen so die lokalen Produkte und Netzwerke, die schon vorhanden waren. Offiziell ist trotzdem gerne von einer Partnerschaft die Rede, aber was soll denn das für eine Partnerschaft sein?!

Man muss teilen

Wenn man eine wirkliche Partnerschaft mit Afrika entwickeln will, dann reicht es nicht, dass man billige Arbeitskräfte anstellt oder die Afrikaner immer mehr als potenzielle Konsumenten entdeckt. Dann muss diese Partnerschaft auf Augenhöhe sein, dann muss man teilen! Aber gewöhnlich verbleibt nur ein kleiner Abschnitt der Produktionskette und der Vertriebswege vor Ort. Der Mehrwert – also der Gewinn, das Kern-Know-how, der Wert, den die Marke und das Branding bringen oder auch die Patente und Steuern - all das bleibt außerhalb Afrikas.

Auf der anderen Seite ist es aber auch so, dass viele junge Nigerianer mit vielen westliche Medien und Ideen konfrontiert sind. Meiner Ansicht nach werden sie dabei auch immer mehr zu Konsumenten im westlichen Sinne erzogen. Sie unterschätzen deshalb unterbewusst das eigene Wissen, die eigene Kultur, die noch immer als primitiv dargestellt wird. Weil das mehr Status bedeutet und sie sich damit nun mehr identifizieren, wollen sie deshalb westliche Marken und Produkte kaufen. So wird die eigene Tradition systematisch zerstört.

Um dem entgegenzuwirken, betreibe ich gemeinsam mit Mitstreitern seit 2020 eine Medienplattform, die im Internet unter https://joadre.com abrufbar ist. Von Anfang an wollten wir bei all unseren Projekten den Nigerianern, und das ist oft sehr schwierig, eine Wertschätzung der eigenen Kultur, des eigenen Wissens näherbringen. Zudem wollen wir sie zusammenbringen, mit kleinen europäischen Firmen, mit KMUs, die dieses Wissen schätzen. Deshalb programmieren wir, das ist ein weiteres Projekt, nun eine Plattform, auf der diese beiden Seiten bei gegenseitiger Wertschätzung sich darüber austauschen können, wie sie Produkte und Dienstleistungen für den nigerianischen Markt produzieren können. Wir wollen also weiterhin unseren eigenen Weg gehen, der oft anders ist als der herkömmliche."