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Finanzplatz wird geschüttelt und gerührt

Von Fabian Graber

Wirtschaft

In London täuscht die Corona-Pandemie über die Folgen des Brexit hinweg. Ein Jahr nach dem EU-Austritt zeichnet sich aber ab, dass Banker das zweitgrößte Finanzzentrum der Welt zunehmend meiden.


Die Finanzmetropole London ist kaum wiederzuerkennen. Auf den engen Gehsteigen der "Square Mile", der Quadratmeile, über die sich das historische Zentrum der Hauptstadt Englands erstreckt, kommt man auch zur Stoßzeit gut voran. Kaum Schlangen vor den kleinen Restaurants mit Mittagessen zum Mitnehmen, vor den Pubs nur zersprengte Gruppen von Menschen in Businesskleidung. Ähnlich das Bild weiter östlich im futuristischen Bankenviertel Canary Wharf mit seinen gläsernen Wolkenkratzern. Und auch im exklusiven Mayfair im Westen ist es ruhiger, die hier ansässigen Hedgefonds und Beteiligungsfirmen wirken unsichtbarer als sonst.

Die Corona-Pandemie hat Spuren hinterlassen, viele Menschen arbeiten weiterhin von zuhause aus und meiden den Trubel. Laut Google ist in der sonst überlasteten Londoner U-Bahn um ein Drittel weniger los als vor der Pandemie. Kein Vergleich zwar zu der Geisterstadt während der Lockdowns, aber immer noch weit entfernt vom Normalzustand. Dass das zweitgrößte Finanzzentrum der Welt - nach New York - seit einem Jahr nun nicht mehr zur Europäischen Union gehört, ist durch die Covid-Krise in den Hintergrund gerückt.

Markt im Aufwind

Für den Finanzplatz war es auch kein schlechtes Jahr: Über 100 Unternehmen gingen seit Jänner in London an die Börse, mehr als in den Jahren 2020 und 2019 zusammen. In Europa bleibt die Stadt Spitzenreiter bei Debüts auf dem Aktienmarkt - rund 23 Milliarden US-Dollar sammelten in London gelistete Unternehmen heuer von Investoren ein. An der Börse in Stockholm waren es 15 Milliarden, Amsterdam kam auf 13 Milliarden. Auch vom Boom bei Unternehmensübernahmen profitiert London mit seinen Armeen von Beratern und Anwälten. Im Jahr 2021 haben weltweit Firmen im Wert von über fünf Billionen US-Dollar den Besitzer gewechselt, ein Rekord.

Und doch kann sich London mit seinen fast neun Millionen Einwohnern den Folgen des Brexit nicht entziehen. Es kommen weniger Menschen aus der EU zum Arbeiten nach Großbritannien, das spürt die Wirtschaft. Immer wieder treten Engpässe bei frischen Lebensmitteln auf, weil im ganzen Land Lkw-Fahrer fehlen. Im Herbst ging aus diesem Grund vielen Tankstellen der Sprit aus, kurzzeitig wurde in Pubs das Bier knapp. Personalmangel herrscht auch in Diskotheken, wo die Türsteher abhandengekommen sind, bei Schlachtbetrieben und in der Pflege. All das drückt auf die Lebensqualität, bei der viele Zuwanderer vom Kontinent schon im Normalbetrieb große Abstriche machen müssen. In einem Ranking des "Economist" der lebenswertesten Städte kam London zuletzt nur auf Platz 60, während etwa Zürich und Genf in den Top 10 landeten.

Weniger attraktiv

Banker in der City erzählen, dass es zunehmend schwierig wird, Nachwuchs aus der EU für den Umzug über den Ärmelkanal begeistern zu können. Wer nicht schon vor 2021 im Vereinigten Königreich gelebt hat, muss nun ein Visum beantragen, das bringt Kosten und Unsicherheit. Dabei sind Ausländer eine lebensnotwendige Ressource für die Londoner Geldhäuser, die auch nach dem Brexit fast ein Drittel ihrer Leistungen in die EU exportieren. Die Branche ist für ihre Auslandsgeschäfte auf die Sprachkenntnisse der Zuwanderer angewiesen, auf deren kulturelles Verständnis und Kontakte vor Ort. "Der Talente-Pool in der Stadt beginnt zu schrumpfen, da immer mehr Fachkräfte nach Europa und anderswo abwandern", sagte Vis Raghavan, Europa-Chef der Investmentbank JPMorgan, gegenüber der Nachrichtenagentur Bloomberg im Oktober.

In Finanzkreisen vernimmt man aber auch, dass der Standort durch die Pandemie an Bedeutung verliert. Viele Menschen arbeiten größtenteils im Homeoffice und können wieder mehr Zeit in ihren Herkunftsländern verbringen, ohne die Zelte in London endgültig abzubrechen. Kleinere Firmen und vor allem Start-ups setzen mittlerweile auf komplett dezentrale Teams, womit sich die Verwerfungen rund um den EU-Austritt und Corona leichter umgehen lassen. Auch diese Dynamik verwässert den Brexit-Effekt in London.

Exodus blieb aus

So schlimm, wie es manche vor dem Austritt befürchtet haben, ist es bis jetzt auch nicht gekommen. Vor fünf Jahren warnte etwa der damalige Chef der Londoner Börse, Xavier Rolet, dass bis zu 230.000 Jobs in der City verloren gehen könnten. Aktuell wollen die großen Investmentbanken wegen Brexit aber bloß 7.400 Posten in die EU verlegen, wobei die meisten Banker nach Paris abwandern, so ein Bericht der Beratungsfirma Ernst & Young vom Dezember. Das ist ein Bruchteil der Londoner Banken-Belegschaft von rund 800.000. Und doch warnten Interessensvertreter der City im Herbst vor akuter Personalnot wegen den strengeren Aufenthaltsregeln.

Dass die aktuelle Regierung unter Premierminister Boris Johnson den Banken beim Thema Immigration entgegenkommt, gilt als unwahrscheinlich. Noch im Herbst unterstrich der konservative Politiker seine Linie, wonach man "unkontrollierte Einwanderung" nicht mehr zulassen dürfe. Dafür setzt sein Kabinett auf Reformen, die den Finanzplatz London wieder attraktiver machen sollen - etwa bei Börsengängen. Zum fünften Jahrestag der Brexit-Abstimmung im Juni sagte Johnson auch, dass der EU-Austritt und die wiedererlangte Souveränität die Briten auf ein höheres Niveau heben werde. Dabei dürfte Brexit die Wirtschaftsleistung des Landes um vier Prozent drücken und Unternehmen langfristig härter treffen als die Corona-Pandemie, so die britische Finanzaufsicht OBR wenige Wochen später.

Chance für manche

Für jene, die in London geblieben sind, hat der EU-Austritt auch Vorteile. Es gebe weniger Konkurrenz auf dem Jobmarkt, das bringe mehr Spielraum nach oben bei Gehaltsverhandlungen, sagt ein Analyst, der bei einer Ratingagentur arbeitet. Einige in seinem Umkreis würden über einen Jobwechsel nachdenken, da mehr offene Stellen ausgeschrieben seien. "Viele sind weggezogen, das ist traurig", so der Analyst. "Aber London ist immer noch eine globale Stadt, die Menschen anzieht."