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EZB schon bald in Zugzwang?

Wirtschaft

Notenbank-Chefin Lagarde ist mit Blick auf die Inflation grundsätzlich offen für einen Kurswechsel.


Trotz der Erwartung einer wieder abflauenden Inflation ist die Europäische Zentralbank (EZB) laut ihrer Chefin Christine Lagarde grundsätzlich offen für künftige geldpolitische Kurswechsel. Derzeit sei jedoch nicht absehbar, dass die Inflation über eine Lohn-Preis-Spirale außer Kontrolle gerate, sagte die Notenbankerin am Freitag auf dem Online-Forum "Davos Agenda". Die EZB erwarte, dass die derzeit hohe Teuerung schrittweise zurückgehen werde. "Doch das bedeutet nicht, dass wir nicht offen sein müssten für Änderungen am Inflationsausblick", fügte Lagarde hinzu.

Die Geldpolitik sei abhängig von der Datenlage. Bereits im März stünden neue Projektionen der EZB-Volkswirte an. "Das könnte dann anders aussehen", sagte die Französin. Wenn es so komme, müsse sich die EZB ihren Fahrplan für das weitere geldpolitische Vorgehen anschauen. Jedenfalls werde sich die EZB nach dem Ende der Anleihenzukäufe auch anderen Instrumenten zuwenden - Zinserhöhungen gehörten dazu.

Im Dezember legten die Verbraucherpreise in der Eurozone gegenüber dem gleichen Vorjahresmonat um 5,0 Prozent zu. Zwar gehen Europas Währungshüter nach wie vor von sinkenden Teuerungsraten im laufenden Jahr aus. Der Ausblick sei aber "mit großer Unsicherheit behaftet", räumte Lagarde ein. Eine höhere Inflation schwächt die Kaufkraft der Verbraucher.

Hartnäckiger als angenommen

Inflation und Zinsen sind seit einem Jahr das große Thema an den Kapitalmärkten. Für Peter Brezinschek, den Chefanalysten der Raiffeisen Bank International (RBI), ist dabei die zentrale Frage, wie lange die unter anderem von deutlich höheren Energiepreisen und Lieferkettenproblemen befeuerte Inflationsrate der Eurozone noch über dem Zwei-Prozent-Ziel der EZB verharren wird.

Er und sein Kollege Gunter Deuber, Chef des Raiffeisen Research, gehen jedenfalls davon aus, dass die erhöhte Teuerung länger anhalten und hartnäckiger sein wird als von der EZB bisher angenommen. Vor diesem Hintergrund erwarten beide einen Schwenk der Zentralbank noch für heuer - mit Zinserhöhungen spätestens 2023.

"Im Herbst 2022 ist die entscheidende Phase, da wird die EZB Farbe bekennen müssen", meinte Brezinschek am Freitag in einer virtuell abgehaltenen Pressekonferenz. Aus seiner persönlichen Sicht könnte es demnach schon gegen Jahresende einen ersten Zinsschritt geben, im offiziellen Ausblick hat Raiffeisen eine EZB-Zinserhöhung erst für 2023.

Geldpolitisch abgekoppelt

Dass sich Europa von den USA bisher geldpolitisch entkoppelt hat, hält Deuber für unangebracht. Zumal die wirtschaftliche Erholung vom pandemiebedingten Absturz 2020 in Europa fast so wie in den USA verlaufen sei. Bis Dezember habe die EZB das Thema Inflation "heruntergespielt", kritisierte Brezinschek.

Die US-Notenbank Fed habe indes sukzessive umgeschwenkt, sagte der RBI-Experte weiter. Anders als die EZB habe sie den Märkten bereits klargemacht, dass es ein mittel- bis längerfristiges Inflationsproblem gebe. "Die Kommunikation von Fed-Chef Jerome Powell ist eindeutig: Die erhöhte Teuerung ist eine Gefahr für das Ziel Vollbeschäftigung." Wie andere Marktbeobachter rechnet auch Raiffeisen für heuer mit vier Zinserhöhungen in den USA - ab März. In der Fed selbst ist von bis zu vier Anhebungen die Rede. Für 2023 rechnet Brezinschek mit vier weiteren Zinserhöhungen.

Börsen unter Druck

Kommende Woche steht ein Zinsmeeting in der Fed an. Mit Spannung erwarten die Kapitalmärkte eine Entscheidung der US-Notenbank zu deren Geldpolitik, diese dürfte in der neuen Woche auch über Wohl und Wehe der Börsen bestimmen. "Die Inflations- und Zinssorgen werden so schnell nicht verschwinden", sagte Craig Erlam, Analyst des Brokerhauses Oanda, zu Reuters. Sollte die Fed für März eine Zinserhöhung um mehr als einen Viertel-Prozentpunkt signalisieren, müsse mit weiteren Kursverlusten am Aktienmarkt gerechnet werden. In den vergangenen Tagen gaben wichtige Indizes rund um den Globus zum Teil deutlich nach - vor allem am Freitag. Seit Jahresbeginn liegt etwa der marktbreite S&P 500 in den USA bereits rund sechs Prozent im Minus, der Nasdaq-100 sogar um rund neun Prozent.

"Generell gilt für die Aktienmärkte das Motto, dass die ,tief hängenden Trauben gepflückt‘ sind und der Aufwärtspfad vor dem Hintergrund der geldpolitischen Wende nun beschwerlicher wird", erklärte Raiffeisen-Analyst Christian Hinterwallner, Chef des Equity Research. Nach den kräftigen, großteils zweistelligen Kursschüben im vergangenen Jahr seien jetzt unter dem Strich "nur" einstellige reale Zuwächse zu erwarten.

Für 2022 sei bei den Unternehmen alles in allem jedenfalls mit "moderateren" Gewinnsteigerungen zu rechnen, so Hinterwallner weiter. "Das begrenzt das Aufwärtspotenzial der Aktienmärkte." Der ATX, der Leitindex der Wiener Börse, der 2021 um knapp 39 Prozent stieg, sollte aber weiter ein "Outperformer" bleiben. "Vor allem Finanztitel und der Energiesektor sollten dem ATX in die Karten spielen", meinte Hinterwallner.

Problemfall Russland

Zum Russland-Ukraine-Konflikt sagte Raiffeisen-Experte Deuber am Freitag, dass diesmal "deutlich umfangreichere wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland im Raum stehen als 2014", als Moskau die Krim annektierte. Auch wenn mögliche Sanktionen "derzeit nicht Teil unserer Überlegungen" seien, wie Deuber betonte, könnten solche Maßnahmen schon einen "weitreichenden globalen Einfluss" haben und die Börsen belasten. Man sehe zwar einen "gewissen Konzessionswillen von Europa und den USA", aber Russland habe viel weitergehende Forderungen. (kle)