Respekt für Groningen!", schallt es über den vollbesetzten Fischmarkt. Fäuste werden in die Luft gereckt, Fackeln angezündet. Mehr als 10.000 Menschen sind an diesem Jänner-Abend zusammengekommen. Um, so sagt ein Mann, die eigene Stimme hören zu lassen, denn in der Randstad, dem wirtschaftlichen und politischen Zentrum im Westen des Landes, kümmere man sich nicht um Groningen. Mit Fackeln zieht die Menge durchs Zentrum. Selbstgemalte Plakaten machen deutlich, was ihre Träger von dem Plan halten, die Gasförderung in der niederländischen Provinz wieder zu erhöhen. Auf einem Transparent steht ein Reim, der die Dynamik der kommenden Wochen exakt voraussieht: "Even if Putin is an ass, hands off our gas!"

Spätestens seit dem Ukraine- Krieg blicken die Niederlande angespannt in ihre nordöstlichste Provinz. Der Grund ist simpel: Europa will weg vom russischen Gas, und im Groninger Boden steckt nicht nur irgendein Gasfeld, sondern mit einer geschätzten Kapazität von ursprünglich rund 2,8 Billionen Kubikmetern das größte Europas. Im globalen Maßstab liegt es auf Rang neun. Etwa 450 Milliarden Kubikmeter sind noch übrig. Seit der Gaspreis voriges Jahr in die Höhe schnellte, ist Groningen wieder ein Thema, wenn es um die Energieversorgung geht.

Erdbeben durch Bohrlöcher

Das Problem ist: Die Gasgewinnung der Niederländischen Erdöl- Gesellschaft (NAM), ein Joint Venture von Shell und Exxon Mobil, die 1963 begann, sorgt seit den 1990ern für Erdbeben in der Region. Gefördert wird nach konventioneller Methode, also kein Fracking, sondern mit Bohrlöchern, durch die das Gas dank natürlichem Druck nach oben strömt. Dadurch aber werden die Gesteinsschichten porös, und durch ihre unterschiedliche Dichte wackelt schließlich die Erde - 2013 mehr als 120 Mal. Erstmals sah sich die Politik genötigt, dem Unmut der besorgten Groninger nachzugeben und die Fördermenge vorübergehend zu reduzieren.

"Die großen Probleme hier gibt es eigentlich schon seit dem schweren Beben von Huizinge 2012", berichtet Merel Jonkheid, Sprecherin der Bürgerinitiative "Groninger Bodem Beweging". An dieser Stelle eine technische Erklärung: Das Beben von Huizinge, einem winzigen Dorf 20 Kilometer nordöstlich der Stadt Groningen, war im August 2012 das schwerste aller sogenannten Gasbeben - mit einem Wert von 3,6 auf der Richterskala. Dass diese meist unter der 2.0-Marke liegen, heißt nicht viel. Durch Gasförderung induzierte Beben finden, anders als tektonische, relativ dicht unter der Oberfläche statt. Daher werden auch vergleichsweise leichtere Stöße deutlich wahrgenommen und haben ein höheres zerstörerisches Potenzial, wie die Zahl der betroffenen Gebäude zeigt.

Erstattungen ziehen sich hin

"Es gibt einen Stapel von etwa 10.000 unbehandelten Schadensdossiers", sagt Jonkheid. Erstattungsprozeduren, die sich lange hinziehen, sind seit Jahren ein Problem, das für die gebeutelten Bewohner der Provinz zusätzlichen Stress bedeutet. Es ist nicht das einzige: "Zur Zeit werden auch 27.000 Häuser auf Erdbebenbeständigkeit untersucht, um zu klären, ob sie verstärkt werden müssen. Das läuft schon seit Jahren, aber erst bei 14 Prozent ist dieser Vorgang abgeschlossen. Hinzu kommt: wenn Häuser nun beurteilt werden, geschieht dies in der Annahme, dass der Gashahn zugeht. Ist das nicht der Fall, muss nach anderen Kriterien beurteilt werden."

Der Gashahn und die Frage, wie weit er geöffnet bleibt oder lieber geschlossen wird, sind seit zehn Jahren eine Art Gradmesser der Groninger Befindlichkeit. Spätestens als die Seismologen des meteorologischen Instituts KNMI im Jahr 2013 für die Zukunft Beben der Magnitude 4 oder 5 vorhersagen, ist die Forderung klar: Der Hahn muss zu, und zwar so schnell es geht. Die Politik kommt dem zunächst nur zögerlich nach. Die Fördermenge wird reduziert, aber mit Verweis auf die Häuser, die im Winter geheizt werden müssen, nicht eingestellt. Auf dem Höhepunkt der Förderung sind 97 Prozent der niederländischen Haushalte abhängig von Erdgas, Ende 2020 immer noch 88,9 Prozent.


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Auch die Einkünfte für den Staatshaushalt dürften eine Rolle spielen. Das Groninger Gas, das auch in die Nachbarländer Frankreich, Deutschland und Belgien exportiert wird, bringt bis 2019 knapp 417 Milliarden Euro in die Kasse. Doch die Aufrufe der staatlichen Minenaufsichtsbehörde fruchten. Diese warnt, wegen der entstandenen Druckunterschiede im Boden könnte die Erden unter dem Gasfeld noch jahrzehntelang beben. Unter dem Eindruck weiterer schwerer Beben wird 2018 beschlossen, die Gasförderung 2030 einzustellen; ein Jahr später wird 2022 als neuer Termin genannt - mit einer Notfalloption bis 2026 für besonders kalte Winter.

Plötzlich wieder dafür

"Die Groninger waren erleichtert, dass sie wieder eine Perspektive hatten, dass es hier langfristig sicher sein würde. Wir dachten, wir könnten endlich wieder in die Zukunft schauen", kommentiert Jonkheid. Als im November 2021 im Dorf Garrelsweer die Erde wackelt - mit 3,2 das stärkste Beben seit 2019 - unterstreicht das nur die Notwendigkeit des Ausstiegs aus dem Groninger Gas.

Umso mehr Unmut erntet Stef Blok, Wirtschaftsminister der damaligen kommissarischen Regierung, als er kurz nach Neujahr ankündigt, im laufenden Gas-Jahr, also bis Oktober 2022, nicht wie geplant 3,9 Milliarden Kubikmeter zu fördern, sondern 7,6 Milliarden - unter anderem wegen vertraglicher Verbindlichkeiten gegenüber Deutschland. Der große Nachbar droht wegen der Gaskrise wortwörtlich kalte Füße zu bekommen. Mit anderen Aktivisten organisiert Jonkheid die abendliche Fackeldemo. Diese kommt nicht nur landesweit in die Nachrichten, sondern erhält online auch breite Unterstützung in anderen Provinzen: mehr als 230.000 Personen zünden eine "digitale Fackel" an, aus Solidarität mit den Groningern.

Umso überraschender ist das Ergebnis einer Umfrage der Regionalzeitung "Dagblad van het Noorden" Anfang März: 83 Prozent der Befragten in der Erdbebenprovinz sind demnach der Meinung, die Niederlande müssten den Import von russischem Erdgas beenden. 61 Prozent stimmen auch dem Vorschlag zu, den hiesigen Gashahn wieder aufzudrehen, bis zu einer Höchstmenge von 12 Milliarden Kubikmetern jährlich, welche die Minenaufsicht für sicher hält - gesetzt den Fall, dass alle Gebäude entsprechend verstärkt sind. Die Schlagzeilen klingen ungewohnt: Groninger, die für mehr Gasförderung plädieren. Doch nach zwei Wochen Krieg scheint man Beben akzeptabler zu finden als Bomben.

"Irreführende Umfrage"

Jonkheid nennt die Umfrage "irreführend", weil die Verstärkung der Gebäude noch jahrelang auf sich warten lässt. Und die dritte Frage, ob der Gewinn aus der erhöhten Gasproduktion einzig dem betroffenen Gebiet und seinen Bewohnern zugutekommen solle - die Zustimmung ist mit 86 Prozent überwältigend -, findet sie unrealistisch. In einem Artikel im "NRC Handelsblad" mit dem Titel "Eine Alternative für russisches Gas? Lasst Groningen in Ruhe!" folgert sie: "Das Problem der Gasproduktion ist kein finanzielles, das sich mit mehr Geld lösen lässt. Es ist ein Sicherheitsproblem."

Wer mit dem Zug im Bebengebiet im Nordosten der Provinz ankommt, nimmt just dieses Sicherheitsproblem als erstes wahr. Im Bahnhofsgebäude von Loppersum, für hiesige Verhältnisse fast schon ein kleines Städtchen, gibt es nicht etwa ein Café, sondern ein Architekturbüro. "Erdbebenbeständig Bauen, Beratung und Ausführung von präventiven Verstärkungen", wirbt ein Schild im Schaufenster. Um die Ecke stellt ein Aushang der Groninger "Bodem Beweging", der touristische Fahrradrouten namens "Risse durch Groningen" vor - eine Anspielung auf von Erdbeben gezeichnete Häuserwände.

Und dann ist da noch eine Karikatur in Posterformat: ein Krokodil, das zähnefletschend eine Truhe mit massivem Schloss und der Aufschrift "Gas-Geld" bewacht. Auf dem Krokodil steht "Den Haager Politik". Der Titel der Zeichnung, "Groningen kommt wieder auf", ist ein Hinweis darauf, dass nach einer Zeit relativer Ruhe das Thema erneut auf der Agenda steht. "Groningen" ist inzwischen ein Codewort für die Erdbebenproblematik. Vor zehn Jahren in anderen Landesteilen als lokales Problem abgetan, gilt sie heute als Symbol für eine politische Kaste, die sich nicht um die Belange der Menschen kümmert. Loppersum ist bekannt als Epizentrum des Erdbebengebiets.

Das Architekturbüro hat schon geschlossen, es ist Freitagnachmittag, doch einer der Inhaber, Geir Eide, ist telefonisch erreichbar. "Wir sind spezialisiert auf erdbebenbeständiges Bauen, dafür gibt es lokal große Nachfrage", erklärt er. "Viele Häuser sind so unsicher bei Beben, dass es besser ist sie abzureißen und neu aufzubauen." Wie man vor diesem Hintergrund die Idee bewertet, mehr Gas zu fördern? "In meinem Umfeld sind die Meinungen verteilt", sagt der Architekt. "Es gibt Leute, die sagen: ‚Pumpt das Gas hoch, wenn das Geld dann benutzt wird, um die Häuser hier zu verstärken, und auf diese Art zurück in die Provinz kommt.‘ Auf der anderen Seite stehen die, die sagen, dass wir stoppen sollen. Das ist auch meine Meinung."

Mehr Gasimporte als -exporte

Die Niederlande gehören keineswegs zu den größten Nutzern von russischem Gas. 15 Prozent beträgt der Anteil der Importe, weniger als die Hälfte des europäischen Durchschnitts (34 Prozent). Dass die Förderung in Groningen stark zurückgefahren wurde, hat zur Folge, dass die Niederlande seit 2018 mehr Gas importieren (das meiste aus Norwegen) als exportieren. Damit sind sie nicht nur abhängiger, sondern auch anfälliger bei starken Preissteigerungen. Zudem waren die Gasspeicher Ende 2021 nur noch zu 58,5 Prozent gefüllt, deutlich unter dem EU-Schnitt von 76 Prozent.

Kein Wunder, dass in Loppersum viele angesichts solcher Dilemmata mit dem Kopf wackeln. Bedächtig bewegen sie ihn hin und her, wenn sie auf der Straße gefragt werden, was denn nun zu tun sei. "Ich war bei der Fackeldemo dabei. Vor dem Krieg sagte ich, der Gashahn muss geschlossen werden. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher", meint eine Frau, die gerade am Bahnhof ankommt. "Vorige Woche war gutes Wetter. Jetzt müssen wir die Heizung wieder hochdrehen, da fühlt sich das schon anders an."

Eine rüstige Rentnerin, die viele beängstigende Erdbeben erlebt hat, zieht eine bittere Bilanz nach rund 60 Jahren Gasförderung in der Provinz: "Meine Mutter war sehr froh, als das Gas kam und sie nicht mehr mit Butangas kochen musste. Hätte sie noch miterlebt, was da alles dran hängt, sie würde sich im Grab umdrehen! Die Groninger müssten zumindest kompensiert werden." Kopfzerbrechen bereitet ihr die Frage, woher der Ersatz für russisches Gas kommen soll. "Es ist ja nicht so, dass schon alle eine Wärmepumpe hätten." Dass Katar nun als Lieferant in den Fokus rückt, findet sie jedenfalls "komplett lächerlich".

Die Lage verschärft sich

Das Beispiel Groningen zeigt, vor welch komplexen Entscheidungen Europa in diesem Frühjahr steht. Einfache Lösungen gibt es nicht, und mit Dauer des Krieges und Ausweitung der Krise verschärft sich die Lage. Rob Jetten, der neue niederländische Minister für Klima und Energie, bekräftigt bei einer Parlamentsdebatte Anfang April, das Groninger Gasfeld "so schnell es geht" schließen zu wollen. Er bezieht sich auf einen Brief der Minenaufsichtsbehörde an die Regierung vom März, die darin von einer erhöhten Gasförderung abrät: "In der heutigen Situation ist die Sicherheit der Einwohner unzureichend gewährleistet. Bei tausenden Häusern besteht bei einem schweren Erdbeben Einsturzgefahr."

Beinahe zeitgleich kommt jedoch ein Appell der "Vereinigung für Energie, Milieu und Wasser", einer Interessenvertretung geschäftlicher Verbraucher von Energie und Wasser. Darin wird für mehr einheimisches Gas plädiert, um zu verhindern, dass Fabriken schließen müssen oder essenzielle Produkte wie Sauerstoff für Krankenhäuser nicht mehr in ausreichendem Maß bereitstehen könnten.

Und als gelte es, die Dringlichkeit der Entscheidung nochmals lautstark zu untermalen, rumpelt es am Abend des 1. April erneut unter Loppersum. 2,7 ist der Wert auf der Richterskala. Ein Bewohner beschreibt das im regionalen Sender RTV Noord: "Als ob unter der Erde eine Bombe explodierte. Das Haus schwankte hin und her."