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Zwischen Teller, Trog und Tank - Welternährung an der Kippe

Von Günter Spreitzhofer

Wirtschaft
Reisanbau in Indonesien.
© reuters / Willy Kurniawan

Der Ukraine-Krieg verändert auch die globale Verfügbarkeit von Energiepflanzen.


Essen ist politischer denn je - das war es schon immer, aber noch nie zuvor in diesem Ausmaß. Das globalisierte Ernährungssystem hat die Welt an den Rand des Abgrunds geführt: 40 Prozent aller Klimaschäden werden durch zunehmend hochindustrialisierte Landwirtschaft verursacht. Nur 10 Prozent des weltweit angebauten Mais und Soja landet auf unseren Tellern, der Rest findet für Biodiesel und Futter für die Massentierhaltung Verwendung. 75 Prozent der weltweiten Ressourcen (Wasser, Böden) werden durch die Agrarindustrie verbraucht, die jedoch nur knapp ein Drittel der globalen Nahrungsmittel erzeugt. Der Atlantik ist leergefischt, Agrochemikalien bedrohen Ökosysteme und unsere Gesundheit: Wir führen einen Krieg gegen die Natur - und gegen uns selbst, sehr lange schon, ohne weltweiten Aufschrei nach Sanktionen.

All das ist bekannt und vieldiskutiert - doch akademische Diskurse zur Nachhaltigkeit von Landwirtschaft, zu öko-orientierten Marketing-Szenarien und globaler Verteilungsgerechtigkeit treten sehr rasch in den Hintergrund, wenn es um die Leistbarkeit und Verfügbarkeit landwirtschaftlicher Produkte per se geht: Die waren nie so gefährdet wie heute. Es geht ans Eingemachte. Und ob ukrainisches Getreide gentechnisch verändert ist, scheint plötzlich völlig nebensächlich.

Zwischen Invasion und Inflation: Zutaten des aktuellen Dilemmas

Zutat 1: Schon vor Russlands Angriff auf die Ukraine waren der Weltagrarmarkt angespannt und die Preise im Steigen begriffen. Dafür verantwortlich waren enorme Energie- und Transportkosten, veränderte (fleischbasierte) Ernährungsmuster neuer Mittelschichten, hohe Preise für Düngemittel und miserable Ernten in einigen Regionen, oft wegen klimawandelbedingter Wetterextreme. Preise für Agrarprodukte spiegeln nicht nur die tatsächliche Verfügbarkeit auf den internationalen Märkten, sondern auch die Erwartungen von Käufern und Verkäufern im Hinblick auf zukünftige Verfügbarkeiten wider.

Zutat 2: Die Ukraine und Russland sind bedeutende Exporteure von Getreide. Bei Weizen etwa machen sie gemeinsam ein Drittel der globalen Exporte aus. Die Lebensmittelversorgung vieler Weltregionen ist davon abhängig - vor allem im globalen Süden, den Dürren, Misswirtschaft und Kriege teilweise ohnehin schon belasten. Statt Grundlage unserer Ernährung zu sein, wurde Nahrung zur Ware: Ein Spekulationsobjekt, mit dem sich Profit machen lässt; soziale Instabilität wird in Kauf genommen. Seit 2007 gab es 51 Lebensmittelaufstände in 37 Ländern wie Südafrika, Kamerun, Tunesien und Indien - ganz ohne russisches Zutun. 66 Länder weltweit gelten als abhängig von Nahrungsmittellieferungen, darunter Industriestaaten wie Japan und Südkorea, aber auch Schwellenländer wie China und Indien. Neue Konsumgewohnheiten (Fast Food, Fleisch) tragen dazu massiv bei.

Zutat 3: Lebensmittelexporte aus der Ukraine und Russland sind bereits nachhaltig gefährdet und dürften weiter einbrechen: In der Ukraine schädigt der Krieg die Lebensmittelproduktion und die Infrastruktur (Häfen, Siloanlagen, Eisenbahnnetze), erwartet wird eine Exportreduktion um 35 Millionen Tonnen (etwa 7,6 Prozent des globalen Getreidehandels) im Vergleich zu 2021. Internationale Getreidevorräte sind gering, was die Preise auch gegenüber kleinen Angebotsschocks sehr empfindlich macht. Russland wiederum kann wegen weitreichender Sanktionen deutlich weniger Industriegüter exportieren und setzt Getreideexporte als geopolitische Waffe ein: Es liefert Weizen an befreundete, von der EU umworbene Staaten (Serbien), während andere Getreideproduzenten in Europa sämtliche Eigenexporte verbieten (Ungarn), was etablierte Vertriebs- und Handelsnetze bedroht.

Zutat 4: Russland und Belarus sind zugleich wichtige Exporteure von Düngemitteln in viele Teile der Welt (30 Prozent des weltweiten Kalium-Düngers, bei Stickstoff-Dünger produziert Russland alleine 15 Prozent). Düngemittel werden somit knapper und teurer, und die Erträge sinken, vor allem in (sub)tropischen Risikoregionen. Fehlende Lebensmittelmengen sind daher durch Mehrproduktion kaum ausgleichbar.

Zutat 5: Die Folge sind massiv steigende Getreidepreise - seit Jahresbeginn etwa 60 Prozent bei Weizen (aktuell: etwa 400 Euro je Tonne), und der Höchststand gilt noch lange nicht als erreicht. Das ist unangenehm für Europa, wo keine leeren Regale drohen und nur 15 Prozent der Haushaltseinkommen auf Ernährung entfallen (USA: 6 Prozent), aber existenzgefährdend für Teile des globalen Südens. Dort wird für Essen und Trinken statistisch mehr als die Hälfte der Einkommen ausgegeben. Industriestaaten können Lebensmittelengpässe mit Preisstützungen kurzfristig abfedern: Experten des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel (IfW Kiel) schätzen, dass der Getreidepreis in Deutschland langfristig nur um 2 Prozent (im Vergleich zu 2021) steigen wird. Das Gegenbeispiel Libanon, wo dreimal mehr Agrarfläche zur ausreichenden Versorgung der heimischen Bevölkerung erforderlich wäre, verdeutlicht das oft hausgemachte Dilemma: "Jahrzehntelang hat der Libanon im großen Stil Weizen importiert, weil das preiswerter war, als Weizen selbst anzupflanzen", räumte Abdallah Nasreddine, Sprecher des Landwirtschaftsministeriums, in einem Gespräch mit der "Deutschen Welle" ein. Nun wurden internationale Organisationen damit beauftragt, fruchtbare Böden zu identifizieren. "Aber wir brauchen noch finanzielle Förderung."

Zutat 6: Gleichzeitig ist in der EU eine Diskussion darüber entbrannt, ob der nachhaltige Umbau der Landwirtschaft zurückgestellt werden sollte, um durch eine Intensivierung steigende Lebensmittelpreise abzufedern - auf Kosten des Klima- und Umweltschutzes. "Der Wunsch, die europäische Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu reduzieren, könnte durch eine forcierte Erzeugung erneuerbarer Energien die Nahrungsmittelpreise weiter in die Höhe treiben und den Druck auf Ökosysteme erhöhen", sagt Sebastian Hess, Agrarwissenschafter an der Universität Hohenheim. "Denn die globalen Herausforderungen bei Klima- und Ressourcenschutz sind nicht über Nacht weniger drängend geworden."

Getreidebauer ohne Food Power? Ein Blick über Europas Tellerrand

Seit 1970 hat sich die globale Agrarfläche halbiert, sowohl als Kollateralschaden von Industrialisierung und Klimawandel (Bodendegradation) wie auch als Folge geplanter Siedlungs- und Bergbautätigkeit, Tendenz steigend: Ein Drittel der Landfläche der Erde (4,75 Milliarden Hektar) gilt als Agrarland, ein Drittel davon (1,6 Milliarden Hektar) wiederum als potenzielle Anbaufläche, der Rest als Weideland. Zugleich wird die Weltbevölkerung bis 2050 auf knapp 10 Milliarden Menschen anwachsen, die adäquat ernährt werden wollen.

Das klappt aber jetzt schon nicht. 800 Millionen Menschen hungern, knapp 2 Milliarden gelten laut WHO als mangel- oder fehlernährt. Dabei steht außer Zweifel, dass das Ernährungspotenzial des Planeten mindestens 12 Milliarden Menschen versorgen könnte, unter Ausnutzung technologischer Hilfsmittel und neuer "grüner" wie "blauer" Revolutionen zu Lande (Gentechnik) und zu Wasser (Aquakulturen). Es ist zudem eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit und globaler Marktmechanismen, die - neben dem Klimawandel, gepaart mit Missernten wie endogenen Naturkatastrophen, Epidemien und Krieg - zahlreiche Staaten der globalen Peripherie zu Bittstellern werden lassen.

Für 70 Prozent der Welternährung sorgen Kleinbauern und Landarbeiter, die von Hunger hauptbetroffen sind: Sie wirtschaften oft auf viel zu kleinen Flächen, haben hohe Kosten, geringe Produktivität und verlieren statistisch 30 Prozent ihrer Ernte durch Schädlinge. Sie müssen sich gegen Landraub wehren und betreiben meist Regenfeldbau, können ihre Felder also nicht gezielt bewässern. Ihre Wettbewerbsfähigkeit ist gering: Sie können ihre Produkte weder lagern und kühlen noch vermarkten.

Das meiste Agrarland bewirtschaften aber große Betriebe mit mehr als 50 Hektar. Obwohl diese nur 1 Prozent der Farmer ausmachen, bearbeiten sie zwei Drittel der landwirtschaftlichen Fläche der Erde. Die industrielle Landwirtschaft, die das Agrarsystem der Industrie- und Schwellenländer prägt, trägt bisher noch deutlich weniger zur Welternährung bei. Sie sorgt jedoch mit hohem Einsatz von Energie, Wasser, Dünger und Hochleistungspflanzen für Überschüsse, die exportiert werden.

Während die "Grüne Revolution" der 1960er - mit neuem Saatgut und zunehmend mechanisierten Anbaumethoden - vor allem in Ost- und Südostasien, aber auch in Mittel- und Lateinamerika, Hunger und Unterernährung radikal gesenkt hat, wird die Versorgungslange für 250 Millionen Menschen in 16 Ländern, überwiegend in Sub-Sahara-Afrika, als latent kritisch bewertet. Überwiegend führen politische und strukturelle Gründe zu Mangel und Unterversorgung: Politisch Verantwortliche treffen falschen Entscheidungen über Investitionen oder Infrastruktur (Bewässerung, etc.) und verschlechtern damit die Bedingungen für die ländliche Entwicklung.

Preistreiber Biokraftstoffproduktion

Zumindest kurzfristige Lösungsansätze zur aktuellen Ernährungskrise liegen auf der Hand, wie Sebastian Lakner, Agrarökonom an der Universität Rostock, ausführt: Er plädiert für die Auflösung der strategischen Lagerhaltung der EU für Notversorgungsmaßnahmen ausgewählter Entwicklungsländer und fordert ein Ende der Beimischungspflicht für Kraftstoffe: 2020 gingen 9 Prozent der globalen Erntemenge aus der Pflanzenproduktion in die Produktion von Bioethanol, rund 5 Prozent entfielen auf Biodiesel. "Wir verwenden im Moment einen großen Teil der Getreideproduktion für Futtermittel, um preisgünstiges Fleisch zu exportieren. Es ist die Frage, inwieweit wir in den reichen Industriestaaten unseren Fleischkonsum auf dem Niveau aufrechterhalten wollen, während das Getreide am Weltmarkt als Lebensmittel fehlt", so Lakner.

Die Biokraftstoffproduktion ist zumeist dort angesiedelt, wo es ohnehin Rohstoffüberschüsse gibt. Ohne Biokraftstoffe müssten diese auf dem Weltmarkt platziert werden, was die Rohstoffpreise stark belasten würde. Der Einsatz von Biokraftstoffen verringert also den Produktionsüberhang, sorgt für eine zusätzliche Wertschöpfung und verringert den Bedarf an Devisen für den Import von Rohöl oder fossilen Kraftstoffen. Der mit Abstand bedeutendste Biodieselproduzent ist die EU mit fast 38 Prozent Anteil an der globalen Produktion. Während für den Biodiesel in Europa hauptsächlich Raps verwendet wird, ist es auf dem amerikanischen Kontinent in erster Linie Soja. Auch die Bedeutung von Mais für die Produktion von Bioethanol wächst. Ein großer Teil landet auch im Futtermittelsektor. Seit Anfang der 1970er Jahre haben sich die Erntemengen bei Mais verdreifacht, bei Weizen und Reis verdoppelt.

Getreide: Säule der Welternährung

Während Gerste hauptsächlich zur Viehfütterung eingesetzt wird, dienen Reis und Weizen vorrangig der menschlichen Ernährung. Jährlich werden etwa 2,9 Milliarden Tonnen Getreide erzeugt. Mit einem Anteil von 47 Prozent wandert der Großteil der Getreideernten in den Futtertrog. Die Nachfrage nach Getreide zur Kraftstoffherstellung beträgt laut dem Internationalen Getreiderat aber weniger als ein Zehntel des Gesamtverbrauchs.

Russland und die Ukraine sind, von Reis abgesehen, überall vorne dabei, bei Anbauflächen und Produktion sowie noch mehr bei ihrer Exportintensität. Die FAO (Food and Agriculture Organization der UNO) sah die Ukraine in der Weltproduktion von Mais - nach Weizen das meistgehandelte Getreide - im Jahr 2020 auf Platz 5 (Russland: Rang 10); bei Gerste ist Russland Weltmarktführer (Ukraine: Rang 9), bei Weizen liegt es hinter China und Indien - auf Platz 3 (Ukraine: Rang 7).

Doch Produktion ist nicht automatisch gleichsetzbar mit Exportaufkommen. China etwa erzeugt 45 Prozent der weltweiten Menge an Getreide und Reis, aber vorwiegend für den Eigenbedarf, gefolgt von Nordamerika, während Russland bei Weizen das weltweit führende Exportland ist (13 Prozent Anteil am weltweiten Exportvolumen, 39 Millionen Tonnen), vor der EU, den USA, Kanada und Australien; die Ukraine liegt im Export-Ranking auf Platz 7.

Vier große Unternehmen (Archer Daniels Midland, Bunge, Cargill und Dreyfus) kontrollieren etwa 75 Prozent des globalen Getreidehandels. Mitte der 1980er wurden 15 Prozent der produzierten Nahrungsmittel international gehandelt; 2009 waren es bereits 23 Prozent. Schätzungen zufolge sind 16 Prozent der Weltbevölkerung auf Importe angewiesen, um ihren Bedarf zu decken.

Landgrabbing gefährdet die lokale Lebensmittelversorgung

Vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern sichern sich internationale, aber auch einheimische Investoren mit langfristigen Kauf- oder Pachtverträgen große Ländereien zum Anbau von Lebensmitteln, Futter- oder Energiepflanzen vor allem für den Export. Angesichts steigender Agrar- und Bodenpreise wird Land aber auch vermehrt zum Spekulationsobjekt für Anleger. Viele dieser großflächigen Landkäufe und -pachten führen zur Vertreibung der ansässigen Bevölkerung und gefährden die lokale und regionale Lebensmittelversorgung.

Das (oft rechtlich höchst fragwürdige) Landgrabbing geschieht oft unter Ausschluss der Öffentlichkeit; verlässliche Zahlen sind nicht vorhanden. Auf der unabhängigen Online-Plattform www.landmatrix.org sind seit dem Jahr 2000 mehr als 1.000 Fälle großflächiger (mindestens 200 Hektar) Landkäufe oder -pachten durch ausländische Investoren überwiegend in Entwicklungs- und Schwellenländern dokumentiert. Sie umfassen rund 450.000 Quadratkilometer - mehr als die Fläche Deutschlands und Österreichs zusammen.

Künftige Ernährungssicherheit: Lösungen mit Beigeschmack

Die Situation könnte sich in den nächsten Monaten weiter zuspitzen, weil die größten Mengen aus der Schwarzmeer-Region im Normalfall im Sommer und Herbst geerntet und exportiert werden. "Sollten diese Mengen im laufenden Jahr komplett fehlen, könnte die Zahl der hungernden Menschen kurzfristig um mehr als 100 Millionen ansteigen", warnt Matin Qaim, Direktor des Zentrums für Entwicklungsforschung an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Dass Russland, derzeit hauptverantwortlich für Flaschenhälse in der globalen Getreideversorgung, nach dem Kollaps etablierter Lieferketten zahlreiche afrikanische Staaten mit dubiosen karitativen Sonderlieferungen willfährig stimmt, ist an Zynismus kaum zu überbieten. Rund 500.000 Tonnen Weizen (Marktwert: 100 Millionen US-Dollar) sollen die Russen aus ukrainischen Silos und Lagerhallen entwendet und im Schwarzmeer-Hafen Sewastopol verschifft haben, wie Satellitenaufnahmen belegen. Das geklaute Getreide wird gespendet oder unter dem Marktwert verkauft. "Den Afrikanern ist egal, woher ihr Essen kommt. Der Nahrungsmittelbedarf ist so dringlich, dass man darüber gar nicht diskutieren muss", zitiert die "New York Times" Hassan Khannenje, den Direktor des Horn International Institute for Strategic Studies in Kenia.

"Zero Hunger", die oberste Priorität des UN World Food Programme (WFP) für 2030, scheint aktuell ein ferner Traum. Die Ernährung der Weltbevölkerung im 21. Jahrhundert erfordert langfristig nicht bloß eine Steigerung der Agrarproduktion, sondern eine veränderte Betrachtung der Anbaupotenziale auf Basis nachhaltiger Wirtschaftsweisen. Genom-Editierung und andere züchterische Innovationen bieten die Chance, sortenspezifische Ertragspotenziale auszuschöpfen - durch eine bessere Nährstoffeffizienz und Widerstandskraft gegenüber Schädlingen und vor allem auch Wassermangel.